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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0312
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3o6

Max Dvofäk.

Möglich, daß es das Porträt ist, welches im Jahre 1415 Jean Malouel gemalt hat.1 Das traditionelle
Profil, welches wir noch an dem Porträt des Herzogs von Berry in dem Gebetbuche von Chantilly,
an dem oben beschriebenen Porträt oder auch an den Bildnissen Pisanellos beobachten können, ist ver-
schwunden und auch sonst hat der Maler die Fesseln der gotischen Malerei überwunden (Fig. 56). Die
Stellung und Verkürzung der Formen ist an diesem Porträt natürlich und ungezwungen, die Propor-
tionierung der einzelnen Teile richtig und die Zeichnung, Modellierung und sachliche Schilderung so
ausführlich und genau wie an den Werken, die nach dem angeblichen Offenbarungswunder der

modernen Malerei entstanden sind.
Und so bezeugt dieses Bild eine
ähnliche Tatsache wie die Schloß-
veduten der Brüder von Limburg.
Wie jene, ist es eine auch nach unse-
rer Auffassung präzise und lücken-
lose Darstellung eines in den For-
men und Raumwerten reich diffe-
renzierten Objektes.

Ein anderes Porträt dessel-
ben Herzogs bietet uns eine etwas
früher entstandene Dedikations-
miniatur (Fig. 57).2 Die Komposi-
tion und Raumdarstellung dieser
Miniatur knüpft noch an trecenteske
Gewohnheiten an, doch von dem
Porträt des Fürsten könnte man das-
selbe sagen wie über das zuletzt be-
sprochene Bildnis. Trotz der flüch-
tigen Ausführung ist es doch nicht
minder nach den Begriffen der mo-
dernen Kunst naturalistisch und
wahr wie das Tafelbild. Wir sehen

daraus, daß die neue Auffassung
Fig. 57. Dedikationsminiatur aus dem Livre des Merveilles, Ms. fr. 2810

der Pariser Nationalbibliothek. nicht auf einmal entstand, alle Werte

umwertend, sondern daß sie nach
und nach einzelne Teile der Darstellung eroberte. Alles, was wir an naturalistischen, aus einer indi-
viduellen Beobachtung entspringenden Vorzügen an den Miniaturen der lehrreichen Handschrift von
Chantilly gelobt haben, kann hier nun angegliedert werden. Aus dem großen allgemeinen Fortschritt des
malerischen Darstellungsvermögens entstanden diese Vorzüge. Die Maler lernten nicht plötzlich sondern
auf Grund der angesammelten Arbeit den Bauer, dieTiere, die Vegetation, die Erdschollen nicht nur treu zu
beobachten sondern auch ähnlich wie jene Architekturen oder einen einzelnen Menschen treu darzustellen.
Das, was sie von Anfang der gotischen Kunst an versuchten, ist nun in einzelnen immer häufigeren Fällen
gelungen, nicht als ob man es erst jetzt entdeckt hätte, sondern weil man im Gebrauche der malerischen
Darstellungsmittel nach und nach so weit gelangte, die Gegenstände ganz auf Grund einer neuen und
selbständigen, selbstentdeckten, von der alten Tradition unabhängigen Formensprache darzustellen.

Es ist natürlich, daß diese Ersetzung der alten Schemen durch neue, strengere Naturnachahmungen
zuerst in solchen Darstellungen geschah, bei welchen es eine besondere Veranlassung für den Künstler

1 Revue universelle des Ans VIII, p. 165.

2 Aus dem Livre des Merveilles Mst. fr. 2810 der Pariser Nationalbibliothek. Diese Handschrift schenkte im Jahre 1413
der Herzog von Burgund dem Herzog von Berry. In der von uns abgebildeten Miniatur auf S. 126 ist die Überreichung des
Buches an den Herzog von Burgund durch den Verfasser Jehan Hayton dargestellt.
 
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