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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0318
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3l2

Max Dvofäk.

deste von den Eigentümlichkeiten der Formengebung Jans; man vergleiche nur die Kopfe der Heih
gen in dem Madonnenbilde mit von Jan gemalten Frauenköpfen. Nie findet man bei ihm ein ähn-
liches nach unten sich verengendes Gesichtsoval mit vorspringendem scharfen Kinne, nie ähnliche
dünne und spitzige Nasen oder flachsartig herunterhängende Haare (Fig. 5g). Auch die nur durch
Punkte angedeuteten Augen kommen bei ihm selbst bei den kleinsten Figuren nie vor und nie malt
er ähnlich gezierte Hände wie der Illuminator der Turiner Handschrift. Umgekehrt finden wir an den

Miniaturen keine Spur von den
früher besprochenen Kriterien
der Werke Jans.

Können auch die Turiner
Miniaturen nicht von Jan selbst
gemalt worden sein, so stehen
sie doch stilistisch seinen Wer-
ken sehr nahe. Besonders die
Landschaften weisen Eigen-
tümlichkeiten auf, die auf den
ersten Blick an Bilder Jans
oder seiner Nachahmer er-
innern, so z. B. die Stadt in
der Seefahrt der Heiligen Ju-
lianus und Martha, an der wir
ähnlich wie an Bildern Jans
unzählige kleine Menschen-
figürchen in den Straßen be-
wundern können, oder das
orientalische Städtebild in der
Darstellung des Judaskusses,
welches den Stadtveduten in
der Petersburger und Berliner
Kreuzigung nahesteht. Auch
bei dem Reiterzuge könnte
man manche Ubereinstimmung
mit den gerechten Richtern
und Rittern des Genter Altares
hervorheben. Doch das aller-
wichtigste ist die Tatsache, daß
der neue naturalistische Stil
Jans in diesen Miniaturen be-
reits vollkommen entwickelt ist. Nicht in allen gleich. Die Formensprache des Madonnenbildes hat
noch manche Züge, die an das Trecento erinnern, doch die beiden Seelandschaften sind bereits
moderne Bilder im vollen Sinne des Wortes. Man hat in späteren Zeiten unzähligemal die hollän-
dische Küste gemalt, die auf der Miniatur mit dem Reiterzuge Wilhelms wahrscheinlich dargestellt ist,
und wußte diese Darstellung bis zur Wiedergabe der momentanen Illusion zu steigern; doch alle Unter-
schiede, welche die späteren Lösungen desselben Problems aufweisen, sind nur gradueller Natur und
gehen von derselben malerischen Grundform aus, die uns in der Turiner Miniatur entgegentritt. Ein
einheitlicher landschaftlicher Ausschnitt wurde in dieser Miniatur vollkommen einheitlich und treu
nach dem neuen naturalistischen Prinzipe dargestellt. Es gibt bei dieser Darstellung nichts Wesent-
liches mehr, was man als mittelalterlich konventionelles Erbgut betrachten könnte, und so erschei-
nen hier die einzelnen Elemente, die wir in dem livre d'heures von Chantilly noch parenthetisch

Fig. 62. Unbekannter Meister, Reiterzug Wilhelms IV. von Holland.
Miniatur aus dem Turiner Gebetbuche des Herzogs von Berry.
 
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