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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0321
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Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck.

3i5

1

Akzessorien, z. B. im genrehaften Beiwerk, in der Beleuchtung, in der Luftstimmung Geltung ver-
schaffend, ein andermal wieder dem ganzen Bilde, wie z. B. Landschaften zugrunde liegend, bis ein
großer Meister kam, der den ganzen Kram der der Naturbeobachtung vorangehenden Erfindung des
Bildes über Bord warf und dasselbe Prinzip, welches sich bisher nur in einzelnen Beobachtungen
und Qualitäten der Bilder äußerte, zum allgemeinen Gesetze des malerischen Schaffens erhoben hat,
indem er den primären, nicht komponierten Naturausschnitt einfach an die Stelle der Komposition
stellte und so zu den literarisch oder religiös bedingten malerischen Stoffen die ganze Mannigfaltigkeit
des Lebens der Malerei eroberte. Wie viele Leute gibt es jedoch auch noch heute, die eine Ahnung
davon haben, daß Millet einen ähnlichen Wendepunkt in
der Geschichte der Malerei bedeutet wie Jan van Eyck?

In analoger Weise hat man im Mittelalter die
schematischen, auf Abstraktion und antiken Uberresten
beruhenden Formen und Figurenschablonen auf Grund
von neuen Naturbeobachtungen nach und nach teilweise
umgestaltet, teilweise ganz ersetzt, bis ein großer Meister
kam, der alles, was man in dieser Weise in Jahrhunderte
langer Entwicklung gefunden hat, kraft seiner außer-
gewöhnlichen Begabung zusammenfaßte und sowohl jene
neue, von der Antike und mittelalterlichen Tradition un-
abhängige Naturbeobachtung als auch ihre Resultate zu
einem allgemeinen malerischen Gesetze, zu einem neuen
Stile erhoben hat.

Die glänzendste Tat dieser Loslösung von der mittel-
alterlichen Tradition waren die Figuren des ersten Men-
schenpaares am Genter Altare; denn in ihnen waren zum
erstenmale auf einem Bilde alle toten Residuen der mittel-
alterlichen und antiken Naturbetrachtung und des mittel-
alterlichen und antiken Formenkapitals vollkommen über-
wunden. Deshalb wurden sie wohl von den Zeitgenossen
am meisten bewundert. Dennoch oder, besser gesagt, ge-
rade deshalb bilden sie mehr den Abschluß der mittelalter-
lichen Kunst als den Beginn der modernen. Ihr Verdienst
bestand nur in einer unerhörten Steigerung der Aufgaben
und Darstellungsmittel, die sich in der gotischen Kunst
entwickelt hatten, wogegen das eigentlich Neue im Stile
Jans und seiner Schule in der Ausdehnung desselben Prin-
zips, nach dem Adam und Eva des Genter Schreines gemalt sind, auf das ganze Bild bestanden hat.
Darin bedeutet aber der Genter Altar weder einen Abschluß noch einen Anfang sondern nur eine be-
stimmte Etappe in einer langen Entwicklung.

Wenn wir diese Entwicklung vor Jan van Eyck vor allem an Miniaturen verfolgt haben, so darf
dies — es sei dies noch einmal wiederholt — nicht so verstanden werden, daß sie sich nur in der
Büchermalerei vollzogen hätte. Wenn der erhaltene Schatz an Tapesserien veröffentlicht sein wird,
wird man sie geradeso lückenlos an diesen Kunsterzeugnissen verfolgen können. Trotzdem mag sie
sich nicht bei allen Gattungen des malerischen Schaffens gleich stark bemerkbar gemacht haben, nicht
weil man bei ihnen verschiedene künstlerische Absichten verfolgt hätte, sondern weil nicht alle tech-
nisch zur Durchführung dieser Absichten geeignet gewesen sind. Der sich vollziehende malerische
Fortschritt bestand in einer großen Bereicherung und Detaillierung der malerischen Beobachtung, in
einer intensiveren Darstellung der materiellen Erscheinung im weitesten Sinne des Wortes. War es
schwer, eine unmittelbar beobachtete Linie treu in einem gewebten Stoffe wiederzugeben, so war es

Fig. 64. Werkstatt der Brüder von Limburg,
Gottes Gebot an Adam und Eva.

Miniatur aus dem Gebetbuche des Herzogs von Berry
in Chautilly.
 
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