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Julius v. Schlosser.
den mit dem französischen König verbündeten Landgrafen Moritz von Hessen, befindet (Fig. 20). Die
Kasseler Büste ähnelt der auf Schloß Chantilly; doch ist sie, noch in der alten (?) Vitrine erhalten, mit
natürlichen Gewändern und den Insignien des heil. Geist-Ordens bekleidet. Die kritischen Bedenken, die
Vitry neuerdings gegen die Zuweisung aller dieser Stücke an bestimmte Meister vorgebracht hat, sind
jedoch wohl zu beherzigen. Die Büste Bourdins taucht noch einmal in einem merkwürdigen Prozeß zu
Saintes von 1611 auf, dessen Akten Vitry publiziert hat und von dem noch einmal die Rede sein wird.
Der Anteil hervorragender Künstler, die sich bei ihren Zeitgenossen eines bedeutenden Ansehens
erfreuten, an diesen Dingen, die wir heute wesentlich anders einschätzen, ist eine nicht gering anzu-
schlagende Tatsache der Kunstgeschichte. Es darf freilich nicht übersehen werden, daß jenes Geschäft,
den Scheinleib für die Leichenfeier herzurichten, von Anfang an zu den Obliegenheiten der Hofmaler
gehört, deren Stellung und Ein-
reihung als «Valets de chambre»
unserem Verständnis nicht ohne
weiters naheliegt. Dergleichen reicht
aber weit, fast bis in unsere Zeit
hinunter; noch Velazquez hat zum
schweren Schaden seiner Kunst
das dornenvolle Amt eines könig-
lichen Schloßhauptmannes beklei-
den müssen und am konservativen
k preußischen Hofe mußte sich der
BL Bildhauer Rauch, wie einst die alten
|A Maler am Hofe von Burgund, noch
die Rangierung unter die Kammer-
1^ diener gefallen lassen. Der Begriff
der freien Kunst, den sich die italie-
Hpr nischen Künstler schon sehr früh
errungen haben, wie die freiere
Wtl^^^ ■ Stellung der Kunst zum Leben über-
haupt und ihre entsprechende ge-
Fig. 20. Büste Heinrichs IV. r r o
(Kassel) sellschaftliche Wertung hat im Nor-
den eine viel mehr retardierte Ent-
wicklung gehabt; die Kunst hat dort noch viel länger im Handwerk, von dem sie ursprünglich nicht
zu trennen ist, und in sozialer Gebundenheit verharrt. Das ist der Grund, weshalb wir unsere total ver-
änderten Anschauungen vom Wesen der Kunst durchaus nicht auf die ältere Zeit übertragen dürfen, die
in diesem Punkte ganz anders gedacht und empfunden hat.
Wir haben die Funeralplastik von ihren ersten dämmernden Anfängen an verfolgt; es ist ein
merkwürdiges Ergebnis, daß die urtümlichen Vorstellungen und die ihnen entsprechenden Formen
durch einen Zeitraum von mehr als anderthalbtausend Jahren im Wesen unerschüttert geblieben sind.
Die Grabfiguren Lord Nelsons in Westminster, der venezianischen Dogen aus dem letzten Jahrhundert
der Republik sind die äußersten Ausläufer einer Entwicklung, die anscheinend schon im republikanischen
Rom des III. vorchristlichen Jahrhunderts feste und typische Formen angenommen hatte. Nur im
hohen Mittelalter klafft eine Lücke, die einen direkten Zusammenhang anzunehmen verbietet; auch sie
wird aber durch das zweifellose Fortleben ganz eigentümlicher Bestattungsgebräuche ausgefüllt, die mit
jenen Ideen im inneren Zusammenhang stehen. Die Statistenfigur des Chevalier Mort ist ein Symbol
dafür, daß jene in primitive Urzeit zurückgehenden Vorstellungen, wenn auch fast jeden deutlichen In-
halts beraubt und zur leeren Form geworden, niemals gänzlich erloschen sind.
Julius v. Schlosser.
den mit dem französischen König verbündeten Landgrafen Moritz von Hessen, befindet (Fig. 20). Die
Kasseler Büste ähnelt der auf Schloß Chantilly; doch ist sie, noch in der alten (?) Vitrine erhalten, mit
natürlichen Gewändern und den Insignien des heil. Geist-Ordens bekleidet. Die kritischen Bedenken, die
Vitry neuerdings gegen die Zuweisung aller dieser Stücke an bestimmte Meister vorgebracht hat, sind
jedoch wohl zu beherzigen. Die Büste Bourdins taucht noch einmal in einem merkwürdigen Prozeß zu
Saintes von 1611 auf, dessen Akten Vitry publiziert hat und von dem noch einmal die Rede sein wird.
Der Anteil hervorragender Künstler, die sich bei ihren Zeitgenossen eines bedeutenden Ansehens
erfreuten, an diesen Dingen, die wir heute wesentlich anders einschätzen, ist eine nicht gering anzu-
schlagende Tatsache der Kunstgeschichte. Es darf freilich nicht übersehen werden, daß jenes Geschäft,
den Scheinleib für die Leichenfeier herzurichten, von Anfang an zu den Obliegenheiten der Hofmaler
gehört, deren Stellung und Ein-
reihung als «Valets de chambre»
unserem Verständnis nicht ohne
weiters naheliegt. Dergleichen reicht
aber weit, fast bis in unsere Zeit
hinunter; noch Velazquez hat zum
schweren Schaden seiner Kunst
das dornenvolle Amt eines könig-
lichen Schloßhauptmannes beklei-
den müssen und am konservativen
k preußischen Hofe mußte sich der
BL Bildhauer Rauch, wie einst die alten
|A Maler am Hofe von Burgund, noch
die Rangierung unter die Kammer-
1^ diener gefallen lassen. Der Begriff
der freien Kunst, den sich die italie-
Hpr nischen Künstler schon sehr früh
errungen haben, wie die freiere
Wtl^^^ ■ Stellung der Kunst zum Leben über-
haupt und ihre entsprechende ge-
Fig. 20. Büste Heinrichs IV. r r o
(Kassel) sellschaftliche Wertung hat im Nor-
den eine viel mehr retardierte Ent-
wicklung gehabt; die Kunst hat dort noch viel länger im Handwerk, von dem sie ursprünglich nicht
zu trennen ist, und in sozialer Gebundenheit verharrt. Das ist der Grund, weshalb wir unsere total ver-
änderten Anschauungen vom Wesen der Kunst durchaus nicht auf die ältere Zeit übertragen dürfen, die
in diesem Punkte ganz anders gedacht und empfunden hat.
Wir haben die Funeralplastik von ihren ersten dämmernden Anfängen an verfolgt; es ist ein
merkwürdiges Ergebnis, daß die urtümlichen Vorstellungen und die ihnen entsprechenden Formen
durch einen Zeitraum von mehr als anderthalbtausend Jahren im Wesen unerschüttert geblieben sind.
Die Grabfiguren Lord Nelsons in Westminster, der venezianischen Dogen aus dem letzten Jahrhundert
der Republik sind die äußersten Ausläufer einer Entwicklung, die anscheinend schon im republikanischen
Rom des III. vorchristlichen Jahrhunderts feste und typische Formen angenommen hatte. Nur im
hohen Mittelalter klafft eine Lücke, die einen direkten Zusammenhang anzunehmen verbietet; auch sie
wird aber durch das zweifellose Fortleben ganz eigentümlicher Bestattungsgebräuche ausgefüllt, die mit
jenen Ideen im inneren Zusammenhang stehen. Die Statistenfigur des Chevalier Mort ist ein Symbol
dafür, daß jene in primitive Urzeit zurückgehenden Vorstellungen, wenn auch fast jeden deutlichen In-
halts beraubt und zur leeren Form geworden, niemals gänzlich erloschen sind.