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Julius v. Schlosser.
wirklichen Menschen, sie tritt als symbolisches Sühnopfer für das primitive Menschenopfer ein; Macrobius
spielt auch tatsächlich auf die der Sage nach von Hercules bei seinem Sieg über Geryon eingesetzten
Opfer der (uns schon bekannten) Argei -an, jener Puppen, die als Ersatz für lebende Menschen vom
Pons Sublicius in den Tiber gestürzt wurden, und läßt seinen Praetextatus daran die eigene, ein wenig
rationalistische, aber in ihrem Kern gewiß richtige Erklärung knüpfen.1
Das Nachwirken solcher uralter und primitiver
Gedankenreihen, wie sie in der Funeralplastik konsta-
tiert werden konnten, zeigt sich nun auch in der Votiv-
plastik der mittelalterlichen Kirchen. Bei Unbilden
aller Art, vornehmlich Krankheiten, deren der Gläubige
durch heilige Vermittlung ledig werden will, ist der
sicherste Weg, das eigene Gewicht in Wachs (wohl
auch in kostbarem Metall, wie in Gold) darzubringen.2
Das sind die «Contrepoix» der französischen Quellen.3
Noch wirksamer wird aber die Weihegabe, den uns
schon bekannten tiefeingewurzelten Vorstellungen vom
Bildzauber entsprechend, wenn dieses rohe Material
in Bildform gemodelt wird, das Abbild, und zwar
das möglichst treue, allenfalls noch durch natura-
listische Zutaten potenzierte Abbild des Stifters dar-
stellt. Daher erklärt sich, daß in den Gnadenorten des
Mittelalters schon ziemlich früh lebensgroße Figuren
aus Wachs vorkommen, die sich mit den von der
Funeralplastik hergestellten wohl vergleichen lassen,
auch dieselbe innere Tendenz zum Naturalismus in sich
tragen.
Die ältesten Nachrichten, die wir kennen, reichen
bis in die erste-Hälfte des XIII. Jahrhunderts zurück;
die eine davon ist freilich erst bei einem Schriftsteller
des XVII. Jahrhunderts erhalten, es liegt aber kein
zwingender Grund vor, dessen Angaben in Zweifel zu
ziehen. In seinem Traite de Statues, Paris 1688 (p. 57)
bringt Francois Lemee folgende auch in anderem Be-
Fig. 24. Pius II. (?) tracht merkwürdige Notiz: «Les images des Ancetres
(s. Maria deiie Grazie bei Mantua). se ne faisoient que de cire ou rarement de bronze et
c'etoit des bustes qu'on conservoit dans les Sales et
dans les Antichambres ä peu pres pareils ä ceus de nos Roys et de nos Reines qui sont ä Saint
Denis en France. Ce n'est pas qu'il n'y eüt des statues de cire toutes entieres, il y en avoit meme
trois au siecle passe, qui subsistoient encore dans l'Eglise de Notre Dame ä Paris; l'une etoit du Pape
Gregoire IX., l'autre de son neveu, et la derniere d'une de ses niepces.» Darnach haben sich also die
1 Nunc de sigillaribus . . . paucis recensendum est. Epicadus refert, Herculem occiso Geryone, cum victor per Italiam
armenta duxisset, ponte qui nunc Sublicius dicitur, ad tempus instructo, hominum simulacra pro numero sociorum, quos
casu peregrinationis amiserat in fluvium demisisse, ut aqua secunda in mare devecta, pro corporibus defunctorura veluti
patriis sedibus redderentur, et inde usum talia simulacra fingendi inter Sacra mansisse. Sed mihi huius rei illa origo verior
existimatur, quam pauco ante memini retulisse, Pelasgos postquam felicior interpretatio capita non viventium sed fictilia et
(porös aestimationem non solum hominum sed etiam lumen significare docuisset, coepisse Saturno cereos («Kerzen») potius
accendere et in sacellum Ditis arae Saturni cohaerens oscilla quaedam pro suis capitibus ferre. Ex illo traditum ut cerei
Saturnalibus missitarentur et sigilla arte fictili fingerentur.
2 Andree, a. a. O., 94.
3 Didrons Annales archeologiques XX, 285.
Julius v. Schlosser.
wirklichen Menschen, sie tritt als symbolisches Sühnopfer für das primitive Menschenopfer ein; Macrobius
spielt auch tatsächlich auf die der Sage nach von Hercules bei seinem Sieg über Geryon eingesetzten
Opfer der (uns schon bekannten) Argei -an, jener Puppen, die als Ersatz für lebende Menschen vom
Pons Sublicius in den Tiber gestürzt wurden, und läßt seinen Praetextatus daran die eigene, ein wenig
rationalistische, aber in ihrem Kern gewiß richtige Erklärung knüpfen.1
Das Nachwirken solcher uralter und primitiver
Gedankenreihen, wie sie in der Funeralplastik konsta-
tiert werden konnten, zeigt sich nun auch in der Votiv-
plastik der mittelalterlichen Kirchen. Bei Unbilden
aller Art, vornehmlich Krankheiten, deren der Gläubige
durch heilige Vermittlung ledig werden will, ist der
sicherste Weg, das eigene Gewicht in Wachs (wohl
auch in kostbarem Metall, wie in Gold) darzubringen.2
Das sind die «Contrepoix» der französischen Quellen.3
Noch wirksamer wird aber die Weihegabe, den uns
schon bekannten tiefeingewurzelten Vorstellungen vom
Bildzauber entsprechend, wenn dieses rohe Material
in Bildform gemodelt wird, das Abbild, und zwar
das möglichst treue, allenfalls noch durch natura-
listische Zutaten potenzierte Abbild des Stifters dar-
stellt. Daher erklärt sich, daß in den Gnadenorten des
Mittelalters schon ziemlich früh lebensgroße Figuren
aus Wachs vorkommen, die sich mit den von der
Funeralplastik hergestellten wohl vergleichen lassen,
auch dieselbe innere Tendenz zum Naturalismus in sich
tragen.
Die ältesten Nachrichten, die wir kennen, reichen
bis in die erste-Hälfte des XIII. Jahrhunderts zurück;
die eine davon ist freilich erst bei einem Schriftsteller
des XVII. Jahrhunderts erhalten, es liegt aber kein
zwingender Grund vor, dessen Angaben in Zweifel zu
ziehen. In seinem Traite de Statues, Paris 1688 (p. 57)
bringt Francois Lemee folgende auch in anderem Be-
Fig. 24. Pius II. (?) tracht merkwürdige Notiz: «Les images des Ancetres
(s. Maria deiie Grazie bei Mantua). se ne faisoient que de cire ou rarement de bronze et
c'etoit des bustes qu'on conservoit dans les Sales et
dans les Antichambres ä peu pres pareils ä ceus de nos Roys et de nos Reines qui sont ä Saint
Denis en France. Ce n'est pas qu'il n'y eüt des statues de cire toutes entieres, il y en avoit meme
trois au siecle passe, qui subsistoient encore dans l'Eglise de Notre Dame ä Paris; l'une etoit du Pape
Gregoire IX., l'autre de son neveu, et la derniere d'une de ses niepces.» Darnach haben sich also die
1 Nunc de sigillaribus . . . paucis recensendum est. Epicadus refert, Herculem occiso Geryone, cum victor per Italiam
armenta duxisset, ponte qui nunc Sublicius dicitur, ad tempus instructo, hominum simulacra pro numero sociorum, quos
casu peregrinationis amiserat in fluvium demisisse, ut aqua secunda in mare devecta, pro corporibus defunctorura veluti
patriis sedibus redderentur, et inde usum talia simulacra fingendi inter Sacra mansisse. Sed mihi huius rei illa origo verior
existimatur, quam pauco ante memini retulisse, Pelasgos postquam felicior interpretatio capita non viventium sed fictilia et
(porös aestimationem non solum hominum sed etiam lumen significare docuisset, coepisse Saturno cereos («Kerzen») potius
accendere et in sacellum Ditis arae Saturni cohaerens oscilla quaedam pro suis capitibus ferre. Ex illo traditum ut cerei
Saturnalibus missitarentur et sigilla arte fictili fingerentur.
2 Andree, a. a. O., 94.
3 Didrons Annales archeologiques XX, 285.