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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 31.1913-1914

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I. Teil: Abhandlungen
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Kuhn, Alfred: Die Illustration des Rosenromans
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https://doi.org/10.11588/diglit.6178#0010
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2

Alfred Kuhn.

wüstung um sich gesät hatten, sammelten sich um einige Mächtige, die bald stark genug waren, ihrem
unbändigen Wollen Einhalt zu tun. Auf den Schlössern folgte die Musik der Feste dem Lärm der
Schlachten. War man früher nur zu Kampf und Streit zusammengekommen, so versammelte sich jetzt
die Jugend zu Spiel und Tanz. Die Frau, welche die rauhe Zeit in strenger Abgeschlossenheit gehalten
hatte, trat zum erstenmal hervor. Und als wollte man nachholen, was in den langen, friedlosen Jahren
an ihr gesündigt worden war, so vereinigte sich jetzt alles zu ihrer Verehrung. Dem kriegerischen Epos
folgte die Minnelyrik der Provence. Verstandesehen, wie sie in den Kreisen des Adels ausschließlich
Übung waren, hatten dem Liebesbedürfnis der Frau nie Rechnung getragen. Jetzt, da diese zum ersten-
mal in den Kreis der Altersgenossen hinaustrat, da war es, als ob ein lang zurückgedämmtes Verlangen
übermächtig hervorbräche. Liebe wurde die Losung! Nicht mehr die christlichen Tugenden waren es,
denen das höchste Streben galt, sondern Beaute, Largesse, Courtoisie, Franchise! Mit der Ehe hatte
diese Liebe so gut wie nichts zu tun.

Eine Unmenge Liebesstreite, Dialoge, Liebestheorien sind das Produkt dieser Zeit, deren späte,
überreife Frucht der Rosenroman1 ist. Will er doch im letzten Grunde nichts anderes sein als eine Liebes-
theorie.

Begonnen wurde er um i23o von dem wahrscheinlich- aus Orleans stammenden Guillaume de
Lorris.2 4270 Verse stammen von ihm; sie sind das Werk eines wirklichen Dichters, voll von Stellen
feinster künstlerischer Empfindung. Aus unbekannten Gründen blieben sie Fragment und wurden, wie
eine Stelle im Texte besagt, «nach mehr als vierzig Jahren» von Jean de Meung3 vollendet. Dieser etwa
22.000 Verse umfassende Schluß ist das Produkt eines Pariser Gelehrten, der mit viel Eitelkeit und Be-
hagen seine Lesefrüchte vor dem aufhorchenden Laienpublikum auskramt. Er ist ein Kompendium alles
mittelalterlichen Wissens, eine unerschöpfliche Quelle zum Verständnis der Zeit, aber angenehm zu lesen
ist er nicht.

Eine kurze Inhaltsangabe ist unerläßlich. Es handelt sich um einen Traum des zwanzigjährigen
Dichters.

Ihm war es, als ob es Mai geworden und die Nacht gewichen sei. Er eilte ins Freie, folgte dem
Flußlaufe und kam zum Liebesgarten. Seltsame Bilder auf dessen Mauer schreckten ihn; da sah er Haine,
Felonie, Vilenie, Couvoitise, Avarice, Envie, Tristesse, Vieillesse, Pauvrete und Papelardie, jene Laster,
die dem nicht anhaften dürfen, der in den Garten der Liebe gelangen will. Oyseuse, ein holdes Mädchen,
öffnete das Tor und führte ihn zum Kreise des Liebesgottes, der sich mit Gesang und Tanz vergnügte. Bei
ihm befanden sich Doux-Regard, Detuit, Liesse, Courtoisie, Richesse, Largesse und Jeunesse. Ihren Spielen
gesellte sich der Jüngling zu. Später, als sich der Kreis verlaufen hatte, wandte ersieh tiefer in den Garten
und stand plötzlich vor der Quelle des Narcissus, in dessen klarem Wasser er entzückt das Bild der Rose
erblickte. Ihr Besitz ward von nun an sein einziger Gedanke. Dieu d'Amour, der hinzugetreten war,
sandte sechs Pfeile auf ihn ab, ins Auge und ins Herz, verschloß dieses mit goldenem Schlüssel und
empfing von dem Liebenden die Huldigung. Als Gefährte ward ihm Bel-Accueil beigegeben, der ihm
auch gestattete, die Rose zu betrachten; aber Dangier, Male-Bouche, Honte und Peur vertrieben ihn
sofort wieder. Jetzt erschien Raison, eine herrliche stolze Dame, und versuchte ihn zu trösten und ihm
die Nichtigkeit seines Begehrens zu erklären. Umsonst. Bei einem erneuten Versuche, die Rose zu er-
langen, erwuchs ihm Hilfe von Franchise und Pitie. Aber Jalousie, die mit Honte und Peur sofort wieder
zur Stelle war, machte alles zu nichte. Eine feste Burg wurde erbaut, um die Rose zu schützen und Bel-
Accueil einzuschließen. Ein altes Weib ward ihm zur besonderen Bewachung beigegeben, während
Dangier, Male-Bouche, Honte und Peur die vier Tore schützten. In namenlosem Schmerze mußte der

1 Neuere Ausgaben von Meon, Paris 1814, 4 Bände; Michel, Paris 1864, 2 Bände; Marteau, Orleans 1870—1880,
5 Bände; Langlois, Paris, in Vorbereitung.

2 Felix Guillon, Etüde historique et biographique sur G. de Lorris, Orleans 1881. S. auch die Abschnitte bei Gröber
und Petit de Julleville.

1 Felix Guillon, Jean Clopinel de Meung, Paris 1903.
 
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