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Alfred Kuhn.
nommen, wo uns der Januar oder der Februar in der genannten Weise entgegentreten. Wie weit sich
das Sujet zurückverfolgen läßt, hat Riegl in seinem tiefgründenden Aufsatz dargetan.1 Die eine der
von ihm bekannt gegebenen Handschriften, das Martyrologium des Wandalbert von Brüm (Vatican.
Cod. Reg. 438), etwa dem X. Jahrhundert angehörig, zeigt den Dezember2 schon als einen auf seinen
Stock gestützten bärtigen Mann, der den hocherhobenen nackten Fuß am Feuer wärmt. Hier scheint
man es jedoch mit dem ersten Auftreten der Darstellung zu tun zu haben; die von Boinet3 neuerdings
ergänzend behandelte Münchner Hand-
schrift4 aus dem IX. Jahrhundert zeigt ein
sehr verschiedenes Bild.
Hier anschließend, kann auch die Fi-
gur des «Liebenden in der Natur» erwähnt
werden, die auf den Schauseiten der Hand-
schriften von Gruppe VI üblich war. Es ist
da zumeist ein junger Mann zwischen zwei
Bäumen stehend zu sehen, der beide Hände
steif erhebt. Höchstwahrscheinlich ist das
Modell ebenfalls unter den Kalenderbildern
zu suchen, nämlich in der Wiedergabe des
April oder Mai, der wohl zumeist einen
Strauß in jeder Hand hält, aber auch zwi-
Kig. 38. Papelardie: Paris, Bibliotheque Nationale, francais 378,
fol j. sehen zwei Bäumen stehend vorkommt.5
Läßt sich doch sogar für eine überaus sel-
tene und textlich völlig unberechtigte Auffassung, wie «der Liebende zu Pferd» (!),6 ein Schema finden.7
Papelardie ist nach der Textbeschreibung als Nonne mit Psalter in der Hand 8 darzustellen, was
auch in einigen, wenn auch meist späteren Handschriften geschieht. Eine ganze Reihe von Codices
jedoch9 zeigen eine Nonne,10 betend vor einem Altar kniend. Hie und da scheint es, als ob die Betende
dem Beschauer das Gesicht zuwende, und in Bibl.Nat. fr. 378 (Fig. 38) dreht sie sich sogar völlig um, in-
dem sie eine Aufmerksamkeit heischende Bewegung macht. In einem Weltspiegel vom Jahre 1373 11
und in den Somraes le Roi (Fig. 3g)12 sind echte und falsche Frömmigkeit (le pecheur et l'hypocrite)
einander gegenübergestellt. Die eine der beiden weiblichen Personen ist tief ins Gebet versunken, wäh-
rend die andere sich umschaut und den Zeigefinger, die Aufmerksamkeit auf sich lenkend, erhebt. Also
1 Alois Riegl, Die mittelalterliche Kalcnderillustration: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichts-
forschung X (1889), S. 1—74.
* Fol. 27 v°, bei Riegl auf Tafel 2.
3 A. Boinet, Les Travaux des Mois dans un Manuscrit de Ia Bibliotheque Royale de Munich, im Bulletin Archeolo-
gique du Comite des Travaux historiques et scientifiques 1905, p. 161 ff.
4 Lat. 210 von 818, Salzburger Kopie einer nordfranzösischen Handschrift. Der Januar, der allein als verwandte Dar-
stellung in Frage kommt, kauert auf dem Boden und wärmt sich am Feuer die Hände.
5 Nötre-Dame zu Paris, linkes Hauptportal; desgl. Ars. 10680, Fol. 3 v°. Kathedrale von Amiens, Hauptportul.
0 Berlin, königl. Bibl. Harn. 577 Quart, Fol. 1.
7 Berlin, Kupferstichkabinet: Kalendarium Hs. 47, Fol. 62 (Mai); ebenfalls als Mai in der Kirche zu Pritz bei Laval,
s. Gelis-Didot etc.
8 Marteau, Vers 431 ff.;
«/'.'( si fut chaucie et vestue,
'/'out ainsinc cum fame vendue,
En sä main ung sautier tertoit.*
" Wien, Hofbibl., Cod. 2592, Fol. 4. Bibl. Nat. fr. 1561, Fol. 3 v°; 1559, Fol. 4 v°; 1564, Fol. 2 v°; 378, Fol. 14;
1569, Fol. 4; 38o, Fol. 4; 800, Fol. 4; 24390, Fol. 4; 19156, Fol. 4; 24389, Fol. 4; 1560, Fol. 4; 19157, Fol. 4; 24388,
Fol. 4; 12593, Fol. 4 v°; 25526, Fol. d v°.
10 In Bibl. Nat. fr. 1561, Fol. 4 v°, ein Mönch.
11 Bibl. Nat. fr. 14939, Fol. 100 v°.
' Ars. 6329, Fol. 102 v°, vom Jahre l3li, Bibl. Nat. fr. 1895, Fol. 77. Mazarine 870, Fol. 89 v°. Bibl. Nat. fr. 938
vom Jahre 1294.
Alfred Kuhn.
nommen, wo uns der Januar oder der Februar in der genannten Weise entgegentreten. Wie weit sich
das Sujet zurückverfolgen läßt, hat Riegl in seinem tiefgründenden Aufsatz dargetan.1 Die eine der
von ihm bekannt gegebenen Handschriften, das Martyrologium des Wandalbert von Brüm (Vatican.
Cod. Reg. 438), etwa dem X. Jahrhundert angehörig, zeigt den Dezember2 schon als einen auf seinen
Stock gestützten bärtigen Mann, der den hocherhobenen nackten Fuß am Feuer wärmt. Hier scheint
man es jedoch mit dem ersten Auftreten der Darstellung zu tun zu haben; die von Boinet3 neuerdings
ergänzend behandelte Münchner Hand-
schrift4 aus dem IX. Jahrhundert zeigt ein
sehr verschiedenes Bild.
Hier anschließend, kann auch die Fi-
gur des «Liebenden in der Natur» erwähnt
werden, die auf den Schauseiten der Hand-
schriften von Gruppe VI üblich war. Es ist
da zumeist ein junger Mann zwischen zwei
Bäumen stehend zu sehen, der beide Hände
steif erhebt. Höchstwahrscheinlich ist das
Modell ebenfalls unter den Kalenderbildern
zu suchen, nämlich in der Wiedergabe des
April oder Mai, der wohl zumeist einen
Strauß in jeder Hand hält, aber auch zwi-
Kig. 38. Papelardie: Paris, Bibliotheque Nationale, francais 378,
fol j. sehen zwei Bäumen stehend vorkommt.5
Läßt sich doch sogar für eine überaus sel-
tene und textlich völlig unberechtigte Auffassung, wie «der Liebende zu Pferd» (!),6 ein Schema finden.7
Papelardie ist nach der Textbeschreibung als Nonne mit Psalter in der Hand 8 darzustellen, was
auch in einigen, wenn auch meist späteren Handschriften geschieht. Eine ganze Reihe von Codices
jedoch9 zeigen eine Nonne,10 betend vor einem Altar kniend. Hie und da scheint es, als ob die Betende
dem Beschauer das Gesicht zuwende, und in Bibl.Nat. fr. 378 (Fig. 38) dreht sie sich sogar völlig um, in-
dem sie eine Aufmerksamkeit heischende Bewegung macht. In einem Weltspiegel vom Jahre 1373 11
und in den Somraes le Roi (Fig. 3g)12 sind echte und falsche Frömmigkeit (le pecheur et l'hypocrite)
einander gegenübergestellt. Die eine der beiden weiblichen Personen ist tief ins Gebet versunken, wäh-
rend die andere sich umschaut und den Zeigefinger, die Aufmerksamkeit auf sich lenkend, erhebt. Also
1 Alois Riegl, Die mittelalterliche Kalcnderillustration: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichts-
forschung X (1889), S. 1—74.
* Fol. 27 v°, bei Riegl auf Tafel 2.
3 A. Boinet, Les Travaux des Mois dans un Manuscrit de Ia Bibliotheque Royale de Munich, im Bulletin Archeolo-
gique du Comite des Travaux historiques et scientifiques 1905, p. 161 ff.
4 Lat. 210 von 818, Salzburger Kopie einer nordfranzösischen Handschrift. Der Januar, der allein als verwandte Dar-
stellung in Frage kommt, kauert auf dem Boden und wärmt sich am Feuer die Hände.
5 Nötre-Dame zu Paris, linkes Hauptportal; desgl. Ars. 10680, Fol. 3 v°. Kathedrale von Amiens, Hauptportul.
0 Berlin, königl. Bibl. Harn. 577 Quart, Fol. 1.
7 Berlin, Kupferstichkabinet: Kalendarium Hs. 47, Fol. 62 (Mai); ebenfalls als Mai in der Kirche zu Pritz bei Laval,
s. Gelis-Didot etc.
8 Marteau, Vers 431 ff.;
«/'.'( si fut chaucie et vestue,
'/'out ainsinc cum fame vendue,
En sä main ung sautier tertoit.*
" Wien, Hofbibl., Cod. 2592, Fol. 4. Bibl. Nat. fr. 1561, Fol. 3 v°; 1559, Fol. 4 v°; 1564, Fol. 2 v°; 378, Fol. 14;
1569, Fol. 4; 38o, Fol. 4; 800, Fol. 4; 24390, Fol. 4; 19156, Fol. 4; 24389, Fol. 4; 1560, Fol. 4; 19157, Fol. 4; 24388,
Fol. 4; 12593, Fol. 4 v°; 25526, Fol. d v°.
10 In Bibl. Nat. fr. 1561, Fol. 4 v°, ein Mönch.
11 Bibl. Nat. fr. 14939, Fol. 100 v°.
' Ars. 6329, Fol. 102 v°, vom Jahre l3li, Bibl. Nat. fr. 1895, Fol. 77. Mazarine 870, Fol. 89 v°. Bibl. Nat. fr. 938
vom Jahre 1294.