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Alfred Stix.
Bei den Unterschieden zwischen der Londoner und Wiener Fassung des Kallistobildes konnten
wir im allgemeinen feststellen, daß sie eine Verbesserung zugunsten einer größeren dramatischen Kon-
zentration der Wiener Komposition enthielten. In einem Falle stimmt dies nicht. Die Nymphe, die
sich an die Göttin schmiegt, ist in London viel mehr bei der Sache. In Wien sieht sie kokett aus dem
Bild heraus. Sie fällt auch durch ihre Bekleidung unter ihren Gefährtinnen stark auf; keine der anderen
Jägerinnen trägt eine so modische Tracht, die für das freie Leben im Walde so wenig paßte. Es ist kein
Zweifel, daß wir es mit einem Porträt zu tun haben. Ihre Züge (Fig. 6) zu erkennen ist nicht schwer.
Unter den wenigen Frauen, die Tizian porträtiert hat, ist die einzige, die er während einer langen
Fig. 5. Tizian, Lavinia (Ausschnitt). Fig. 6. Tizian, Lavinia (Ausschnitt).
Berlin, Kaiser Friedrich-Museum. Wien, Hofmuseum.
Spanne Zeit wiederholt als Modell benützte, seine Tochter Lavinia. Wir begegnen ihr häufig. Als junges
Mädchen kommt sie auf dem Wiener Ecce homo vor.1 Anfangs der zwanziger Jahre muß sie gewesen
sein, als Tizian sie als Mädchen mit der Fruchtschale (Berlin) (Fig. 5) und Salome (Madrid) darstellte.
In die gleiche Zeit gehört das Mädchen mit der Vase (Dresden). In derselben Galerie treffen wir ihr Bild
noch als Neuvermählte und als Frau nach der Mitte der Dreißig. Etwas jünger erscheint sie auf einem
Bilde des Wiener Hofmuseums (Fig. 7), das zwar nicht Tizians Hand zeigt, aber in seiner Werkstatt ent-
standen ist. Gut vergleichen läßt sich das Berliner Bild (Fig. 5) wegen der Ähnlichkeit der Kopfstellung.
Besonders auffallend ist die Übereinstimmung in der Form der leicht aufgeworfenen Nase. Das andere
Wiener Bild zeigt meines Erachtens ebenfalls unverkennbar die gleiche Person wie die Nymphe auf dem
Bade der Kallisto, nur mit etwas volleren Zügen. Lavinia war damals eben schon um einige Jahre älter.
Wir wissen ihr genaues Alter nicht; nur ihr Heiratskontrakt ist erhalten. Sie vermählte sich im März
1550 mit Cornelio Sarcinelli aus Serravalle, wo sie fernerhin wohnte. Als Mitgift erhielt sie unter
1 Nach einer sehr wahrscheinlichen Vermutung von Morelli.
Alfred Stix.
Bei den Unterschieden zwischen der Londoner und Wiener Fassung des Kallistobildes konnten
wir im allgemeinen feststellen, daß sie eine Verbesserung zugunsten einer größeren dramatischen Kon-
zentration der Wiener Komposition enthielten. In einem Falle stimmt dies nicht. Die Nymphe, die
sich an die Göttin schmiegt, ist in London viel mehr bei der Sache. In Wien sieht sie kokett aus dem
Bild heraus. Sie fällt auch durch ihre Bekleidung unter ihren Gefährtinnen stark auf; keine der anderen
Jägerinnen trägt eine so modische Tracht, die für das freie Leben im Walde so wenig paßte. Es ist kein
Zweifel, daß wir es mit einem Porträt zu tun haben. Ihre Züge (Fig. 6) zu erkennen ist nicht schwer.
Unter den wenigen Frauen, die Tizian porträtiert hat, ist die einzige, die er während einer langen
Fig. 5. Tizian, Lavinia (Ausschnitt). Fig. 6. Tizian, Lavinia (Ausschnitt).
Berlin, Kaiser Friedrich-Museum. Wien, Hofmuseum.
Spanne Zeit wiederholt als Modell benützte, seine Tochter Lavinia. Wir begegnen ihr häufig. Als junges
Mädchen kommt sie auf dem Wiener Ecce homo vor.1 Anfangs der zwanziger Jahre muß sie gewesen
sein, als Tizian sie als Mädchen mit der Fruchtschale (Berlin) (Fig. 5) und Salome (Madrid) darstellte.
In die gleiche Zeit gehört das Mädchen mit der Vase (Dresden). In derselben Galerie treffen wir ihr Bild
noch als Neuvermählte und als Frau nach der Mitte der Dreißig. Etwas jünger erscheint sie auf einem
Bilde des Wiener Hofmuseums (Fig. 7), das zwar nicht Tizians Hand zeigt, aber in seiner Werkstatt ent-
standen ist. Gut vergleichen läßt sich das Berliner Bild (Fig. 5) wegen der Ähnlichkeit der Kopfstellung.
Besonders auffallend ist die Übereinstimmung in der Form der leicht aufgeworfenen Nase. Das andere
Wiener Bild zeigt meines Erachtens ebenfalls unverkennbar die gleiche Person wie die Nymphe auf dem
Bade der Kallisto, nur mit etwas volleren Zügen. Lavinia war damals eben schon um einige Jahre älter.
Wir wissen ihr genaues Alter nicht; nur ihr Heiratskontrakt ist erhalten. Sie vermählte sich im März
1550 mit Cornelio Sarcinelli aus Serravalle, wo sie fernerhin wohnte. Als Mitgift erhielt sie unter
1 Nach einer sehr wahrscheinlichen Vermutung von Morelli.