Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 33.1916

DOI issue:
I. Theil: Abhandlungen
DOI article:
Planiscig, Leo: Geschichte der venezianischen Skulptur im XIV. Jahrhundert
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6168#0098
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext


Leo Planiscig.

als kompositionelles Ganzes ist unsere Darstellung häufig in der Kunst des Trecento. Klarer, aber
mit gleicher naturalistischer Wirkung, finden wir sie später in der Gruppe den Tod erflehender
Kranker und der Bettler auf dem «Trionfo» des Campo Santo zu Pisa.

Ich habe unsere Gruppe naturalistisch genannt. Dieser Naturalismus unterscheidet sich
aber von jenem der zum Vergleiche herangezogenen Gruppe an der Kanzel des Giovanni zu Pisa.
Nur das Kompositionsschema ist in beiden Werken gemeinsam, nicht die Einzeldurchführung.
Man betrachte auf unserem Relief unter den Kranken jene Mißgestalt mit hängendem Kopfe, die
sich mühsam mit den Händen am Boden fortbewegt; ebenso die Gruppe, die ihr zur Seite steht,
und das kranke Kind mit aufgeschwollenem Bauche, das von einem Reiter im Hintergrunde her-
getragen wird; dann die Art und Weise, in der die Bewegung in der Menge dargestellt ist, jene Figur,
die sich den Weg zum Beato bahnen will und sich auf die Schultern ihres Nachbars stützt. Derartige
genrehafte, naturalistische Details sind der Kunst Giovannis fremd. Hier dagegen eine wahre Lust am
Erzählen, ein novellistischer Zug, der an der Skulptur Toskanas, namentlich durch die Werke sienesi-
scher Künstler bedingt,1 als eine typische, lokale Note das ganze Trecento hindurch haften bleibt.

Der Vergleich mit dem Fragmente eines Reliefs, das einst der im Jahre i32o entstandenen
Area des hl. Oktavianus in Volterra angehörte2 und das Venturi3 — höchstwahrscheinlich
mit Recht — den Sienesen Agostino und Agnolo di Ventura zuschreibt (Fig. 54), zeig, daß nicht
nur der kompositionelle Gedanke sondern auch die stilistische Behandlung der Einzelnfigur
unseres Reliefs mit der sienesischen Skulptur in Verbindung zu setzen ist. Die Szene auf dem Relief
von Volterra ist unserer beinahe gleich: ein heiliger Mönch beschenkt eine Gruppe Bettler. Kom-
positionen ist diese hier klarer, weniger gedrängt zur Geltung gebracht worden. Die Behandlung
der Figuren ist aber übereinstimmend: die gleiche Art der Faltengebung der Gewänder, wo die
hervorspringenden Teile flach beibehalten werden, an den Köpfen die gleichen mandelförmig ge-
schlitzten Augen, dasselbe Motiv in den Tuniken, die, am Halse offen, einen spitzen Ausschnitt
zeigen; schließlich auch hier die naturalistische Tendenz, jene der Wirklichkeit nachempfundenen
Details, die zu einem kompositionellen Ganzen verbunden wurden.

b) Auch am Relief der ursprünglichen Rückseite des Sarkophags (jetzt über dem
Altar eingemauert) (Fig. 49) kehrt die naturalistisch-genrehafte Note wieder: eine histori-
sche Begebenheit mit — zum Teile — historischen Personen. Trotzdem darf man sich nicht
verleiten lassen, in dem Kopfe des Beato eine individuelle Charakteristik zu suchen, die wir an
den Totendarstellungen der ersten Trecentohälfte negiert haben. Mehr als ein auf Porträtähnlich-
keit zielendes Wollen spielt bei der Odorico-Figur der Einfluß eines bestimmten, charakteristischen
Werkes eine Rolle: es ist der B. Simeone profeta in Venedig. Eine auffallende Ähnlichkeit zeigt
sich in den Köpfen dieser beiden Figuren: die gleiche, stilisierte Behandlung der Haare und des
Bartes, dessen symmetrische Locken deutlich die Bohrerarbeit zeigen. Die tiefen Augenhöhlen, die
gerunzelte Stirn, der halbgeöffnete Mund zeigen eine noch näheren Verwandtschaft beider Werke,
ebenso die Lage der Gestalten. Wenn aber der Körper des B. Simeone sich im Stoffe der Gewänder
verliert, wenn das Verhältnis zwischen der Länge der Arme und der des Körpers falsch ist und wenn
schließlich seine Füße beinahe ganz in den Kleidern verschwinden, können wir bei der Figur des
B. Odorico einen beträchtlichen Unterschied wahrnehmen: die Arme stehen in richtiger Proportion
zum Körper und sind durch die Ärmel der Tunika modelliert, die Falten des Gewandes fließen
in natürlicher Weise, sind nicht zwecklos aufgerollt, die Füsse sind sichtbar, die Zehen steif, ge-
krümmt in der Erstarrung des Todes. Die Hände erreichen allerdings nicht die technische Vollkom-
menheit jener des B. Simeone; aber beim B. Odorico handelt es sich um eine Figur in viel kleineren
Dimensionen als bei jener in Venedig, die überlebensgroß ist und bei der die Behandlung von
Einzelheiten eine besondere Aufmerksamkeit erforderte.

1 Vgl. die erzählenden Reliefs am Grabmal des Guido Tarlati im Dom zu Arezzo.

2 Jetzt an einer Innenwand des Domes von Volterra eingelassen.

3 Venturi a. a. O. IV, p. 3g3.
 
Annotationen