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Graf Bünau, oder zumindest die berechtigte Hoffnung, einem solch kritisch gesonne-
nen Geist eine ihm angemessene Betätigung zu verschaffen1.

Welch unbehindertes Arbeiten Graf Bünau Winckelmann sicherte und wie er ihn
in seinen Studien ermunterte, ohne den zensierenden Auftraggeber zu spielen, kann
man aus Winckelmanns "Gedanken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemei-
nen Geschichte" ersehen. In dieser Vorlage für eine eventuelle Veröffentlichung
erläutert Winckelmann, in voltaireschem Zungenschlag, einige methodische Pro-
grammpunkte, die in einer auch pädagogisch verstandenen Vermittlung von
Geschichte beachtet werden müssen.

Oberste Maxime des Geschichtsschreibers sei die "Wahrheit"; dieses Gesetz, dem
sich der Geschichtsschreiber verpflichten muß, kann und muß vielleicht sogar mit den
Forderungen und 'Gesetzen' des Auftraggebers in Kollision geraten. Das Gesetz der
Wahrheit aber lehrt, daß "Recht und Umecht selten auf der einen Seite allein ist"2.
Die Geschichtsschreibung muß sich an der Wahrheit orientieren, muß die Ansprüche
der Auftraggeber auf Verherrlichung und Rechtfertigung ihrer Macht durch die
Geschichtsschreibung relativieren. Wie schwierig dies ist, dessen ist sich auch Win-
ckelmann bewußt, denn er weiß, daß "ein mündlicher Vortrag mehrere Freyheit
gestattet Helden und Printzen die Larve abzuziehen"3, als in einer schriftlichen
Fixierung möglich wäre.

Eine andere Maxime des Historikers sei "die Wahl des nützlichen"4. Besonders im
mündlichen Vortrag müsse er sich darauf konzentrieren, das zu zeigen, "was wahr-
haft nützlich in der Geschichte ist"5. Im mündlichen Vortrag müsse er sich "über
Kleinigkeiten" erheben, darf also keine Ereignisgeschichte vermitteln, etwa von der
Art, "mit dem Calender in der Hand, seinem Held von Tag zu Tag, von Schritt zu
Schritt" zu folgen. Für wen ist eine Geschichtsschreibung der Kriege und Kriegskunst
"nützlich"? "Ist es nicht eine Schande für unsere Zeit", wenn "ein Freund der Men-
schen, ein Vater des Vaterlandes, ein Helfer der Unterdrückten, ein großmüthiger
Beförderer der Künste" nicht "den Geist und die Beredsamkeit eines Geschichts-
schreibers" zu wecken vermag? Winckelmann polemisiert gegen die Hofgeschichts-
schreiber, die nur kriegerische Siege und Niederlagen von Herrschern als Inhalt der
Geschichtsschreibung anerkennen. Er fordert dagegen: "Man sammle die Asche
gütiger Fürsten: man unterrichte durch Vollkommenheiten der Seele mehr als durch
die Stärke des Arms". Ebenfalls solle man Gelehrte und Künstler, aber "nur Erfinder,
nicht Copisten; nur Originale, keine Sammler" verewigen.

Die "allgemeine Geschichte" ist jedoch nicht nur eine Geschichte historischer
Persönlichkeiten, sie umfaßt auch "die Kenntniß der großen Schicksale der Reiche
und Staaten, ihre Aufnahme, Wachsthum, Flor und Fall". Der Geschichtsschreiber
muß das Telos in der Geschichte darstellen, muß die Individuen in ihrer Abhängigkeit

1 Briefe, Bd. I, S. 77 f., [le 16. de Juin 1748]

2 Kleine Schriften, S. 23

3 ebd., S. 19

4 ebd., S. 17

5 ebd., S. 23
 
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