Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kerschensteiner, Georg
Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung: neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen — München, 1905

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.27816#0240
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
220

Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung.

Raumperspektive zwingen würden. Aber selbst bei den wenigen raum-
gemässen Darstellungen, die das Kind aus dem Gedächtnis liefert,
wissen wir nicht sicher, ob das Kind bereits sich völlig bewusst ist,
um was es sich hier handelt, oder ob es nicht vielmehr unter dem
Einfluss der Erinnerung an andere bildliche Darstellungen zeichnet.

Eine sichere Kenntnis über die Entwickelung des perspektivischen
Sehens war nun nicht bloss aus rein wissenschaftlichen Gründen
wünschenswert, sondern auch mit Rücksicht auf die lehrplanmässigen
Forderungen im Zeichnen der Volksschulen. Zur Beantwortung der
Frage stellte ich mehr als zwei Jahre Massenversuche an; allein sie
führten zunächst zu keinem sicheren Ergebnis. Denn es gelang mir
in der ersten Zeit aus Mangel an Erfahrung nicht, alle Fehlerquellen
tunlichst auszuschalten, obwohl schon dem ersten Massenversuch
vorbereitende Versuche mit einzelnen Klassen vorausgegangen waren.
Von Versuch zu Versuch wurden die Fragestellungen schärfer, die
Fehlerquellen weniger. Bei den drei Massenversuchen endlich, die
ich im Dezember 1904 anstellte, erhielt ich einwandfreies, zur Ver-
arbeitung geeignetes Material von 14000 Kinderzeichnungen.

Nachdem an drei Schulen die Lehrkräfte sorgfältig über den Zweck
der Versuche, über die Art der Ausführung und insbesondere über die
Aufstellung des Adodells instruiert worden waren, wurden die Kinder
aufgemuntert, auf drei einzelne Blätter folgende Gegenstände zu zeichnen:
1. einen Stuhl aus dem Gedächtnis, 2. einen Stuhl nach der Natur,
3. eine Geige nach der Natur.

Für den ersten Versuch waren keine anderen Vorsichtsmassregeln
notwendig, als dass das Lehrpersonal jeder Beeinflussung sich enthielt
und Sorge trug, dass die Kinder nicht voneinander abzeichneten.
Für den zweiten Versuch dagegen waren besondere Vorsichtsmass-
regeln angezeigt. Aus den früheren Untersuchungen hatte ich bemerkt,
dass die Kinder, wenn sie einen Stuhl aus dem Gedächtnis perspek-
tivisch darstellen, ausschliesslich einen Stuhl in Aufsicht wiedergeben.
Wollte man daher erfahren, ob die Kinder wirklich die perspektivische
Verkürzung beobachten und auffassen oder ob sie nur ein gedächtnis-
mässiges perspektivisches Bild geben, so musste dem Modell eine
Stellung gegeben werden, welche eine Täuschung des Beurteilers der
Zeichnung ausschliesst. Demgemäss wurde der von den Kindern ab-
zuzeichnende Stuhl auf den Katheder so gestellt, dass sämtliche
Kinder der Klasse denselben in Untersicht sehen mussten. Dies
war vor Beginn des Zeichnens vom Lehrer zu kontrollieren. Eine
kleine Neigung des Stuhles nach rückwärts unterstützte diese Absicht
da, wo die Untersicht von den weiter entfernten Kindern nicht
 
Annotationen