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Kerschensteiner, Georg
Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung: neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.27816#0322
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Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung.

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Schilderung eines Ereignisses bisweilen noch gemischt mit einem wahren
Durcheinander zahlreicher Nebenfiguren. Die assyrischen Wand-
gemälde aus glasierten, farbigen Tonplatten geben nur lineare Dar-
stellungen. Die Tafel- und Vasenmalerei der alten Griechen ging
lange noch dem Raumproblem aus dem Wege, da längst Architektur
und Plastik in hoher Blüte standen.

Zwar müssen nach den Anekdoten von den Trauben des Zeuxis
und dem Vorhänge des Parrhasius einzelne Werke der beiden Maler
eine starke Raumillusion im Beschauer hervorgerufen haben; aber
selbst wenn diese Erzählungen mehr wären als Anekdoten, so handelte
es sich in der damaligen Kunst sicher nur um die Darstellung von
einzelnen Gegenständen und Figuren und nicht um die bildliche
Darstellung eines in die Tiefe ausgedehnten Raumes.

Erst in den Wandgemälden von Pompeji und Herculanum treffen
wir aut Fresken mit wirklichen Raumdarstellungen. Grössere Tiefe
haben sie aber nur, insoweit sie Architektur darstellen ; bei figürlichen
Bildern begnügen sie sich auch hier mit ganz geringer Tiefe. Die
Fresken und Miniaturen der romanischen Zeit kommen über die
lineare Anordnung des Figürlichen nicht wesentlich hinaus, und wo
sie in der Darstellung den ganzen Raum zum Ausdruck bringen
wollen, misslingt die Konstruktion des Raumes. Das Gefühl und die
Kraft einer echten bildlichen Raumkunst erwacht erst mit Giotto in
Italien und van Eyck in den Niederlanden. Noch länger als das
Abendland braucht die ostasiatische Kunst der Chinesen und Japaner,
um einen charakteristischen Ausdruck für den bildlichen Raum zu finden.

Es war für mich nun von starkem Interesse, zu untersuchen,
wie gross die Ausdrucksfähigkeit des 6- bis 14-jährigen Kindes auf
diesem Gebiete ist, um so mehr, als neue Strömungen auf dem Gebiete
des Zeichenunterrichtes bereits Aufgaben zu stellen geneigt waren,
welche direkt in das Gebiet der bildlichen Raumdarstellung fallen.
Noch grösser war das Interesse, zu erfahren, auf welche Weise
sich die Ausdrucksfähigkeit hier entwickelt und bis zu welcher
Höhe sie auf den verschiedenen Altersstufen steigt. Ich habe dabei
die grössten Überraschungen neben den gröbsten Enttäuschungen er-
fahren. Höchste Kunst steht hier dicht neben ausgedehnter Unfähig-
keit bei ein und derselben Gruppe von Altersgenossen. Wie das zu
erklären ist, werden wir später sehen. Zu den Versuchen wurden
etwa 10 500 Schulkinder herangezogen. Zunächst hatten 4500 Kinder
der I. Simultanschule, der katholischen Kolumbusschule, der katholi-
schen Haimhausenschule, der katholischen Bogenhauserschule und
der einen Privatvolksschule Material zu liefern, um aus ihm die
 
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