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Kerschensteiner, Georg
Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung: neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.27816#0467
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§ 8. Stellung des Zeichenunterrichts an den allgemeinbildenden Schulen.

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Menschen machen wollen, dann dürfen wir nicht übersehen, dass
mit der ästhetischen Erziehung, zum Teil sogar durch sie, auch
eine starke Willenserziehung unserer Nation vorhanden sein muss,
damit nicht bloss schön empfindende Männer und Frauen unserem
Vaterlande erstehen mögen, sondern auch sittlich grosse Menschen,
die überdies jedem, der sie betrachtet, auch immer einen wahrhaft
ästhetischen Genuss bereiten, weil alle ihre Handlungen sich in die
eine schöne Form einordnen, die sie sich selbst gegeben haben. Man
spricht nun freilich heute viel vom Einfluss wahrer Kunst auf die
sittliche Bildung, ein Einfluss, der unter gewissen Voraussetzungen
nicht zu leugnen ist. Unter allen Künsten ist aber sicher die Zeichen-
kunst für diese Zwecke nicht die erste, ganz abgesehen davon, dass
die Menschen im allgemeinen, die Jugend aber vor allem, zunächst
weit mehr vom Stoff als von der Form beherrscht werden. Wenn
der Satz wahr ist, dass jeder grosse Künstler gerade in seinen be-
deutendsten Werken auch seine Weltanschauung und damit seine
Moral niederlegt, so werden diese Werke von der Jugend genau so-
weit verstanden und üben genau soweit Einfluss auf sie aus, als sie
die Weltanschauung und die Moral des Künstlers verstehen.*)

Auf der anderen Seite bekommt allerdings der wahre Künstler
am leichtesten Gewalt über die Jugend, weil er nicht aufdringlich
einhergeht in der Toga des lehrhaften Schulmeisters, sondern
spielend, reizend, lockend, als sichtbarer Freund. Und weiter
kommt hinzu, dass zwar nicht die Zeichenkunst, wohl aber die
dramatische Kunst für die Jugend nichteine Unterhaltung ist, sondern
ein Stück Leben, das sie packt, aus dem sie ihre Erfahrung und
sittlichen Begriffe bereichert, nach deren Helden sie ihre Handlung
bemisst.

Die beiden zuletzt betrachteten Standpunkte haben also zweifellos
gewisse Berechtigungen, aber auch, wie wir gesehen haben, Klippen
und Gefahren. Ja, es gibt Menschen, welche dieselben so gross aus-
malen, dass sie nicht davor zurückscheuen, die wahre Kunst ganz
aus der Schule zu verbannen, sofern sie sich nicht wie die Musik
von Weltanschauungen und Moral fernhält. Sie würden günstigsten-
falls der Kunst nur so viel Macht auf die Gestaltung des Lehrplanes
einräumen, als der übrige von ihnen ausschliesslich als nötig erkannte
Unterricht gestattet. Darum lag es uns daran nachzuweisen, dass
schon die primitivsten Forderungen einer Erziehung zum brauch-
baren Staatsbürger nicht bloss die Einführung in die sprachliche,

*) Damit hat man nebenbei bemerkt auch ein Kriterium für die Forderung, nur
das Allerbeste der Kunst an die Kinder heranzubringen.

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