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Kerschensteiner, Georg
Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung: neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.27816#0483
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§ io. Physische und psychische Grundbedingungen des Zeichnens.

Ein ghosser Würfel, sehr nahe mit einer Fläche vor die Augen
gehalten, erscheint uns als Quadrat. In senkrecht auffallendem
Sonnenlichte wird einem mit den Sonnenstrahlen schauenden Auge
ein reich gegliederter Baum, ein mannigfach gegliederter Berg als eine
ungegliederte, formlose Masse erscheinen, während vielleicht seitliche
Beleuchtung ihm einen bezaubernden Formenreichtum geben kann.
Jeder Photograph weiss, dass je nach der Stellung und Beleuchtung,
die er seinem Kunden gibt, dessen Gesicht einen andern Ausdruck
erhält. Viele Stellungen des nackten menschlichen Körpers sind
nur von gewissen Standpunkten aus charakteristisch wiederzugeben,
und es ist ein grosser Fehler, wenn in Aktzeichenklassen, wie das
nicht selten der Fall ist, die Schüler im Kreis um das Modell auf-
gestellt sind. Auch die Bewegung gibt allen belebten und selbst
unbelebten Dingen einen anderen Charakter als die Ruhe. Welche
Grazie in der spielenden Katze, welcher Fluss der Finien im schwebenden
Körper des Trapezkünstlers, welcher Trotz in der Bewegung des
winddurchbrausten Eichenwaldes, welche gigantische Kraft im sturm-
bewegten Meere, welche bleierne Schwere in der ölglatten S-ee!
Auch die Wirkung der Unterlage oder des Hintergrundes, von dem
sich ein Gegenstand abhebt, hat einen Einfluss auf die Erscheinung
des Gegenstandes selbst.

Dazu kommt weiter, dass die Augen des Menschen verschieden
sind. Es ist wahrscheinlich, dass keine zwei Menschen ganz gleich
sehen, sowohl was die Empfindung von Licht und Farbe, als auch,
weil ja Licht und Farbe die Formempfindung beeinflussen, was die
Form selbst betrifft. Diese Tatsache wird jeder denkende Lehrer bei
seinem Unterricht berücksichtigen müssen. Guebin geht freilich zu
weit, wenn er verlangt: Un modele, un seid pour toute la classe,
quand il s’agit de l’education visuelle, c’est supposer qu’on n’a devant
soi qu’un seul Organe ä developper, qu’un seid enfant ä instruire.
Dans l’education des sens, il faut d’autant de modeles pour apprendre
ä voir, qu’il faut de marteaux pour apprendre ä frapper. Das hätte
nur Sinn, wenn der Lehrer imstande wäre, mit den Augen aller
seiner Kinder zu sehen; aber da er selbst auch nur sein individuelles
Augenpaar hat, so würde sein Unterricht, auch wenn er jedem Kind
ein Modell zur Hand gibt, dem individuellen Sehen des einzelnen
Kindes um nichts gerechter werden können. Man kann getrost
einer grösseren Zahl von Schülern ein einziges Modell zuweisen beim
Zeichnen nach der Natur, wenn auch nicht einer Klasse von
40—60 Schülern; aber man wird bei der Korrektur an das individuelle
Organ des Schülers denken müssen.

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