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Kerschensteiner, Georg
Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung: neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.27816#0496
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Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung.

Die Entstehung
der Stufe des
Schema-s.

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Kindern so völlig aufhört, dass sie die ganze weitere Lebenszeit
sich nicht mehr des graphischen Ausdrucks bedienen. Weder die
Schule, noch das Leben hat eben die Fähigkeit, dieses Ausdrucks-
mittel zu gebrauchen, entsprechend der wachsenden geistigen Reife hin-
reichend entwickelt; es wird mehr und mehr unzulänglich, schliesslich
versagt es ganz. Und da für etwa die Hälfte der Menschen das Aus-
drucksmittel der Sprache genügt zur Sicherung der Lebensexistenz,
so haben diese Menschen auch später keine Veranlassung mehr, in
irgend einer Weise auf dasselbe zurückzukommen. Es ist just so,
wie die Verkümmerung eines Organes bei unzureichendem Gebrauche.

Alan sollte nun freilich meinen, dass ein so starker Tätigkeits-
trieb trotz widriger Verhältnisse gleichwohl länger an dauern sollte,
als dies bei der Betätigung des Ausdrucks durch Zeichnen der Fall
ist. Denn wir sehen manche andere Fähigkeiten viele Jahre lang
nahezu latent im Kinde schlummern, bis sie wie von selbst durch-
brechen. Beim Zeichnen aber liegt diese Verkümmerung zum einen Teil
an der Art der geistigen Entwickelung des Kindes, zum andern Teile am
Unterricht. (Zunächst eilt die Sprache der Vorstellungsentwicklung weit
voraus. Längst spricht das Kind Wörter, ohne dass es den Sinn derselben
erfasst hat, und längst weis's es einen Gegenstand zu benennen, von
dem es sich vielleicht nur einer einzigen Wahrnehmung be-
wuisst ist. Der Stolz der Eltern, die Kinder recht bald sprechen
zu lehren, und das Streben' der Schule, sie recht bald zum Lesen und
Schreiben zu bringen, tut das übrige, damit die Sprache der Er-
fahrung noch mehr vorauseilt. Die ersten Gegenstandsvorstellungen
sind sehr unvollständig. Fast regelmässig fehlt ihren Merkmalen
jede Art des formellen oder gar kausalen Zusammenhanges. Erst all-
mählich auf Grund sorgfältiger, Jahre lang angestellter Beobachtungen
und Vergleiche wird die Gegenstandsvorstellung immer reifer und
reifer; sie umfasst nicht mehr allein die Bestandteile, sondern
zwischen ihnen existieren hundertfache Zusammenhänge aller
Art und zwar gemäss unseres heutigen Bildungsbetriebes zumeist
logische, sehr selten formale. Denn der heutige gebildete Mensch
hat vielleicht denken, selten aber sehen gelernt. Beim Kinde besteht
zweifellos der bewusste Teil der meisten Vorstellungen nur aus
vereinzelten Gegenstandsmerkmalen. Denn die sind es ja, die sich
den Sinnen zuerst aufdrängen, während das Bewusstwerden ihrer
Zusammenhänge grösserer oder geringerer Reflexionen bedarf. Damit
hängt es nun- auch zusammen, dass das Zeichnen des Kindes weiter
nichts ist, als ein Niederschreiben der Merkmale der Bestandteile des
Gegenstandes; es beschreibt den Gegenstand, aber es stellt ihn nicht dar,
 
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