Lorenzo Ghibertis Denkwürdigkeiten
Prolegomena zu einer künftigen Ausgabe
Von JULIUS V. SCHLOSSER
Zur Einleitung: Über Wesen und Desiderien der Ouellenkritik
Wer von historischen und philologischen Studien herkommend, den Betrieb der neueren
Kunstgeschichte mit prüfendem Blick übersieht, muß notwendig die hastige und dilettantische
Art bemerken, mit der diese junge, seit wenig mehr als drei Generationen an den Universi-
täten heimische Disziplin mit ihrem überreichen, kaum mehr zu bewältigenden und noch
immer in Zunahme begriffenen Material gewirtschaftet hat, im Gegensatze namentlich zu
ihrer älteren, philologisch wohl fundierten Schwesterwissenschaft, der alten Kunstgeschichte.
Das gilt in ganz besonderem Maße von ihrem Verhältnisse zu den sekundären, schriftlichen
Quellen. Es ist nur ein schwächlicher Entschuldigungsgrund, wenn man sagen wollte, die
Notwendigkeit, das unabsehbare primäre Quellenmaterial kritisch zu sichten, sei hin-
dernd im Wege gestanden, es sei da so viel zu tun und zu schaffen gewesen, daß zur
Kritik der Texte keine Hände frei gewesen seien. Diese Sichtung hat in exakter und
akademisch überlieferbarer Weise für die Zeit des Rinascimento, die wir hier im Auge
haben — denn die mittelalterliche Kunstgeschichte ist seit jeher ihre eigenen Wege ge-
gangen — doch erst mit dem kritischen Studium der sichersten Zeugen, der Handzeich-
nungen durch LERMoLiEFE-MoRELLi begonnen, und war ein Erfolg, der sich mit dem Auf-
schwunge der Urkundenkritik und ihrer Hilfsdisziplinen vergleichen läßt. Es besteht auch
ein innerer Zusammenhang darin, daß gerade an der Stätte, wo der größte Meister dieser
Wissenschaft, THEODOR v. SicuEL, gelehrt und gewirkt hat, an der Wiener Universität, die
Bestrebungen MoRELLis durch die am Institut für österreichische Geschichtsforschung heran-
gebildete Kunsthistorikerschule aufgenommen und fortgeführt worden sind, unter ihrem
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