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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung III
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Scholz, Wilhelm von: Das Schaffen des dramatischen Dichters
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0384
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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Seele fähig ist. Der Dramatiker sieht alle diese Ansätze mit dem Auge
der Phantasie, dessen Selbsttätigkeit groß ist. Gewissermaßen: wie in
einer wärmeren und fruchtbaren Atmosphäre entwickeln sich im Geiste des
Dramatikers die, im Raume gebundenen, Charaktere und Geschehnisse
rasch und frei immer bis zu ihrer Idee, bis dahin, wo sie, auch als nur
vorgestellt, ergreifen und erschüttern. Die Folgen verkürzen sich, die
Gegensätze rücken härter aneinander, Raum und Zeit werden nur noch
mit dem Puls der Erregung empfunden und gemessen.
Dieser fortwährende, ich möchte sagen: latente Schaffenszustand ist
fruchtbar, aber zunächst nicht zeugend. In dem raschen Zug einmal wieder
vergessener, ein anderes Mal mit ein paar flüchtigen Zeilen ins Tagebuch
aufgezeichneter Vorstellungsreihen bildet sich der Gestaltungsstoff:
szenische Motive, Charaktermotive, Menschentypen, Schicksalslagen, Ent-
schlüsse, Konflikte, Gefühle, Bilder, die dann dem dichtenden Geist mit
ihrer ganzen Fülle zu Gebote stehen, aus denen dann die — seltenere —
zeugende Erregung mit vollen Händen schon Vorbereitetes, im drama-
tischen Sinne: lebendiges Leben greift.
Ich vermag Ihnen über den Moment, in welchem der Einfall eines großen
zusammenhängenden Werkes in solchem vorbereiteten Lebensstoff zündet,
nichts ganz Sicheres zu sagen. Es erscheint mir dieser Moment nicht —
was er aber, wie ich objektiv schließe, doch wohl auch sehr stark sein muß
— als ein subjektiv besonders fruchtbarer, empfänglicher, sondern immer
als eine besondere Schönheit, ein besonderer Glanz und Reiz des Stoffes,
der Fabel, die mir in Zeiten solcher inneren Disposition begegnet.
Irgend ein Vorkommnis, das ich sehe, höre, lese, zufällig vielleicht in
einem Gespräch als vorgestellten Fall bilde, auch gelegentlich einmal
träume, gibt die erste Anregung, den Keimpunkt, die Kristallisationsmitte,
von der aus sich die Handlungsgestalt bildet. Es ist nicht leicht, deutlich
zu kennzeichnen, welche Eigenschaften eine solche erste Anregung haben
muß, um sich plötzlich nicht nur vor alle anderen, ihr wesensverwandten
Anregungen, sondern auch vor die ganze Alltagswirklichkeit zu drängen
und den Dramatiker in sie als seine jetzt eigentliche Wirklichkeit hinein-
zuziehen. Nebenmomente der ersten Anregung mögen für mich früher der
Reiz der Zeitfarbe, die Größe und das Leben der möglichen Bilder gewesen
sein. Heute ist für mich sicher mitbestimmend der Raum zum seelischen
Aufglühenlassen der Gestalten durch die Leidenschaft, den ich instinktiv
an einer Fabel, einem Stoff empfinde; also die Gewähr für die Sichtbarkeit,
Gewortbarkeit, Ausdehnung und Fülle des Stoffes, aus denen sich der
Körper eines Dramas bilden läßt; mit denen sich ein Zusammenklang
lebendig abgestufter Figuren ergibt, die in ihrem Verwobensein als nicht
allzu willkürlicher Lebensausschnitt erscheinen. Diese Nebeneigenschaften,
die eine fruchtbare Anregung zum Drama wohl haben muß, mit denen ein
Stoff sich der ausführenden Hand empfiehlt und die man als das Vorhanden-
sein szenischer Möglichkeiten bezeichnen kann, sind gleichwohl wertlos,
wenn das Hauptmoment fehlt, der Mitteltrieb, das unmittelbar Zündende!
Man hat von Wollen, Handeln und Konflikt als dem Wesen des Dramas
 
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