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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung III
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Scholz, Wilhelm von: Das Schaffen des dramatischen Dichters
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0385

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von Scholz, Das Schaffen des dramatischen Dichters 379

gesprochen; sie gehören zum Wesen des Dramas, sind es aber noch nicht.
Das ist vielmehr, ich kann es mit keinem besseren Wort sagen: ein Schicksal
und ein Charakter. Ein Schicksal, welches das Letzte aus einem Charakter
herausreißt; ein Charakter, welcher notwendig Schicksal auf sich zieht. Ein
Schicksal und ein Charakter, die aneinander erst ganz sichtbar werden, die
voneinander nicht zu trennen sind.
Immer, wenn mir ein Stück Schicksal als dramatischer Stoff lebendig
wurde, war sogleich der dies Schicksal erlebende Held, mit einem ersten
Hauch seines Wesens, einem Abglanz seines Daseinsgefühles so in meinem
Bewußtsein, sein Ich floß irgendwie mit meinem Ich zusammen — wie
das mit einem mein Interesse erregenden, mir lebendig begegnenden
Menschen geschieht. Der wird mir auch zunächst nur mit einer wie ver-
hüllten Ichberührung bewußt, mit noch unbestimmtem Umriß und erst
allmählich körperlich, greifbar, plastisch. Diese unmittelbar empfundene
Doppeltheit von Charakter und Schicksal — nicht nur, ich wiederhole es:
von Charakter und Handlung, denn erst das Gegenspiel von dem Helden
entzogenem, auf ihn eindringendem Geschehen hat die Eigenschaft, den
Charakter aufzurollen — finde ich in allen den Motiven, die mich zu drama-
tischem Schaffen anregten.
Daß auch die wechselnde subjektive Disposition beim Zünden einer
Anregung mitspricht, konnte ich indirekt dadurch feststellen, daß mir ein
Stoff manchmal erst geraume Zeit nach meiner ersten Begegnung mit ihm
zu dem zündenden Funken wurde, der mein Erleben und Sein in das
Werden eines Dramas verwandelte.
Zur Charakteristik der ersten Anregung kann ich noch das folgende
angeben: sie läßt widersätzliche Gefühle aufsteigen, die hineinformen
wollen in das Vorhandene oder eindringen in Sichverbergendes. Es findet
in ihr ein Gefühl der Identifizierung, der Ichverwandlung statt, des Selbst-
erlebens, das vielleicht den jüngeren Dichter mehr die Geste und die
Weltanschauung aus der Gestalt, den reifenden ihre Leidenschaft, ihren
Konflikt und ihr Gefühl gegen das, in der Antithese wahlverwandte, Schick-
sal annehmen läßt. Aus solcher ersten Anregung bricht einen Moment
lang dasselbe große Gefühl, das später, wenn das Werk sich in die Raum-
welt gedrängt hat, als letzter Klang in der erregten Seele des Zuschauers
nachhallt. Noch sei hinzugefügt, daß der so in die Seele geschleuderte
Stoff einen inneren Wirklichkeitsgrad annimmt, welcher wesentlich stärker
ist als die zahllosen gedachten Begebnisse, die täglich durch unser Vor-
stellen gehen, und andererseits reizvoller, lockender sich in ihn zu versenken,
spielender, freier als alle „äußere Wirklichkeit“. Er verdrängt in seinem
Wachsen jedes nicht ganz fundamentale äußere Lebensinteresse und nimmt
in seinen Geschehnissen, Bildern, Charakteren allmählich eine solche
körperhafte Deutlichkeit für Auge und Ohr, eine solche Stärke der Gefühle
und Leidenschaften an, daß er gegenständlich wird wie ein Halbtraum und
sich als Geschehen zur objektiven Wirklichkeit etwa verhält wie die Auf-
führung einer Handlung zu dieser selben Handlung, wirklich gedacht. Er
wird vor der Vorstellung erlebt in einer Mischung von geschehener
 
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