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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung IV
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Riemann, Hugo: Gignómvnon und Geyovos beim Musikhören: ein aristoxenischer Beitrag zur modernen Musikästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0530
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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

einsetzt und daß somit, wo dieselbe nicht auf ihre Rechnung kommt, eine
starke ästhetische Unlust resultiert, die dem ohnmächtigen Gefühle des
Schwimmens im Uferlosen vergleichbar ist.
Aber zu den Wirrnissen und Widersprüchen, welche das absichtliche
Vermeiden geschlossener Formgebung für die darstellende Musik bedingt,
hat Berlioz gleich mit seiner Symphonie phantastique und mit Harold en Italie
noch ein weiteres bedenkliches Element gebracht: die Idee fixe, das
repräsentative Motiv, ein melodisches Gebilde, das durchaus nicht
nur verlaufend als γιγνόμβνον hingenommen werden soll, sondern Anspruch
darauf macht, als bleibender Pol in der Erscheinungen Flucht in der Er-
innerung festgehalten und auch in den stärksten Umwandlungen und Ver-
zerrungen wiedererkannt zu werden. Es versteht sich von selbst, daß auch
dieses Element aus der illustrierenden Musik, der Liedbegleitung und der
szenischen Musik herstammt, in der es vortreffliche Dienste leistet und
bekanntlich durch Wagner in den „Leitmotiven“ (wie sie Hans von
Wolzogen benannt hat) eine weitgehende planmäßige Anwendung gefunden
hat. Daß die neueren Programmkomponisten Wagners Beispiel folgend
die Zahl der repräsentativ oder doch leitend, orientierend gemeinten der-
artigen Gebilde vervielfacht haben, macht natürlich vollends zur Unmöglich-
keit, zur rechten Zeit zu erkennen, wo das eine und wo das andere Verhalten
der rezeptiven Phantasie beabsichtigt und am Platze ist, wo konstruktiv
angesammelt werden muß und wo das zu unterbleiben hat. Wenn auch
solche repräsentativen Motive oder Themen von dem Komponisten nach
Möglichkeit so gestaltet werden, daß sie nicht eine etwa den Hauptthemen
eines Sonaten- oder Symphoniesatzes gleichende feste Struktur erhalten,
vielmehr doch noch so weit geschlossenere Formung meiden, daß sie
eher einem herausgerissenen Fetzen einer Durchführungs- oder Über-
leitungspartie der Sonatenform ähneln, so offenbaren doch auch sie ganz
unweigerlich eben die innerliche Zwiespältigkeit des ganzen Genres, das
fortgesetzte Ankämpfen gegen die Natur, die tendenziöse Künstlichkeit des
Verfahrens. Das leitende Prinzip der Programmkomponisten ist schließlich
der Versuch der B e s c hr ä n k u n g auf die elementaren Fak-
toren: Tonhöhenveränderung (herauf und herunter), Dynamik (An-
schwellen und Abschwellen), rhythmische Elementarwirkungen (Pochen,
Hüpfen, Schwirren, starres Anhalten, stoß- und ruckweise Änderungen der
Bewegungsart), Klangfarbe und Lagenwirkungen (hoch-hell, tief-dunkel,
nebelhafte Verschleierung, strahlender Glanz) mit fortgesetztem Ankämpfen
gegen die formgebenden Faktoren, ängstliche Scheu vor dem klaren Tages-
lichte der Selbstverständlichkeit einer normalen harmonischen Kadenzie-
rung, rhythmischen Periodisierung, thematischen Dialektik. Wohl aber weiß
die Programm-Musik auch die Spannungswerte komplizierter Harmonie-
bildungen und besonders auch die mystischen Bewegungswerte weitest aus-
holender Harmonieschritte auszubeuten, aber immer mit Vermeidung ihrer
natürlichen Auflösung in schlichteres Wesen. Alles das läuft aber
auf das eine hinaus, daß einem wirklich großzügigen formenden
 
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