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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung IV
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Riemann, Hugo: Gignómvnon und Geyovos beim Musikhören: ein aristoxenischer Beitrag zur modernen Musikästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0529

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Riemann, Γιγνόμενον und Feyovos beim Musikhören

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Steigerung und sein Auswachsen zu größeren Gestaltungen wird doch seine
Ausdrucksbedeutung in keiner Weise in Frage gestellt oder aufgehoben,
da eben doch jedes neue Auftreten desselben wieder ein γιγνόμβνον ist,
das als lebensvoller Ausdruck in die Phantasie eingehen muß, ehe es zum
yeyovos, zum Formelement werden kann. Es geht also bei diesem wunder-
baren Umsetzungsprozesse aus primärem Ausdruck in kunstmäßige Form
nichts von dem verloren, auf was die Antiformalisten Wert legen, wohl aber
wird etwas überaus wertvolles Weiteres dazu gewonnen. Wird aber solcher
Weiterverwendung und Verwertung der Motive mit bewußter Absichtlich-
heit aus dem Wege gegangen, so kann das Ergebnis nur die Aneinander-
hängung immer neuer und verschiedener Motive sein, für deren Ausdeutung
und richtige Wertung aber unmöglich ein in großen Zügen gegebenes
Programm ausreicht, vielmehr eine fortgehende Einzelerklärung erforderlich
wäre. Daher denn die Neigung der Programm-Komponisten, durch Ein-
zeichnung orientierender Bemerkungen in die Partitur (und wären es nur
Vortragsbestimmungen, die eine Bezugnahme auf Momente des Programms
verraten) den Kontakt zu sichern. Bei der klingenden Aufführung fällt aber
diese notwendige Hilfe weg, sofern nicht der Hörer in der Partitur nachliest.
Als letzte Konsequenz, auf welche die ganze Richtung hindrängt, muß daher
die mit der Instrumentalmusik fortgesetzt mitgehende Rezitation eines den
Sinn der Musik erläuternden poetischen oder auch prosaischen Textes
erscheinen, also das Melodrama. Das ist aber doch nichts anderes als die
Bankerotterklärung der ganzen Kunstrichtung, das Eingeständnis, daß die
Umkehrung des Verhältnisses von Poesie und Musik die letztere vor eine
unlösbare Aufgabe stellt. So ungezwungen sich die illustrierend charakte-
risierende Instrumentalmusik der Vokalmusik einfügt und ihren Ausdruck ver-
tieft, ergänzt und vermannigfacht, so fadenscheinig wirkt die Notwendig-
keit, mit Worten nebenhergehend zu rechtfertigen, was da die Musik macht,
wo sie doch angeblich souverän herrschend auftritt, aber freilich sich ihrer
immanenten Bildungsgesetze nicht in vollem Umfange bedienen soll. Sieht
man genauer zu, so erkennt man aber, daß kaum jemals ein Programm-
Komponist so weit gegangen ist, auf formale Gestaltung wirklich ganz zu
verzichten, und daß es ihm nur mit großer Mühe gelingt, streckenweise die
Kristallisation der Motive zu ausgedehnteren Themen zu verhüten und wirk-
lich statt dessen ein Fortschreiten zu immer neuen Bildungen durchzuführen.
Es bedarf wohl nicht des Hinweises, daß die Idee einer solchen ohne festes
Formgefüge und ohne bestimmte Kadenzierung fortschreitenden, sozusagen
epischen Musik auf dem Boden der musikdramatischen Theorien erwachsen
ist; wie das ideale Musikdrama den liedmäßigen Gesang zugunsten des
nur deklamierenden meidet, so verzichtet die „epische Musik“ — wie man sie
nennen könnte — gleichfalls auf ausgebreitetere lyrische Stimmungsbilder.
Die Geschichte der Oper lehrt, daß man mit solcher übertriebenen Konse-
quenz einem ungreifbaren Phantom nachjagt, und die Geschichte der
Programm-Musik lehrt das gleiche. Es gibt eben, wo die Musik nicht sich
einem mitgehenden anderweiten kunstmäßigen Gestalten unter- oder ein-
ordnet, kein Mittel, zu verhüten, daß die synthetische Arbeit der Phantasie
 
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