DER KREIS
Zeitschrift für künstlerische Kultur
Organ der Hamburger Bühne
3, Jahrgang Heft 4 April 1926
Die Weltstadt ein Kulturzentrum
von Johannes Tralow.
17" ulturzentrum — wieso?
**-Und die Renaissance? Venedig — Weltstadt von dazumal
vielleicht — das könnte noch gehen. Aber die kleinen Fürsten-
höfe Italiens, das Florenz der Medicis? Weltstädte —?
Und gewiß doch Kulturzentren!
In der Tat? Es hat allerdings etwas Bestechendes, dieser Ge-
danke: Freizügigkeit des Genies, Es ist der Geist, der sich den
Körper baut. Nun gar die Stadt! Nichts gilt der Zufall des Ortes.
Denkt an Weimar. Dies Bierdorf zwang dem europäischen Sieger
eine Reverenz ab. Er, der deutsche Fürsten antichambrieren ließ,
erkannte es als einzige Großmacht in Deutschland an, mit der
es zu paktieren galt. Er wußte bereits vor mehr als 100 Jahren,
daß öffentliche Meinung etwas höchst Reales ist. Napoleon und
Goethe, Nicht nur eine Zusammenkunft, Ein Programm!
Weimar — ein Bierdorf. Da liegts. Man versetze sich in jene Zeit
zurück und denke sich die ganze illustre Klassizität verreist, nach
Tölz, Marienbad oder Lauchstädt. Und sei verdammt, die unbarm-
herzig zurückgelassenen Weimaraner ohne Fassade zu genießen.
Wir haben so genaue Berichte zeitgenössischer Zeugen, um uns vor
diesem Greuel genugsam zu entsetzen. Wem aber vor nichts graust,
der setze sich auf die Bahn und fahre ins heutige Weimar. Nicht
zu einem Museumsbesuch und nicht zu einer Klausur. Nein, um
dort mit den verehrlichen Weimaranern zu heulen und ihre Kultur-
seligkeiten zu teilen, Spießer gibts überall; aber unter Kultur-
zentren stellt man sich füglich etwas anderes vor, als eine An-
sammlung von ihnen.
Also fast die Summe unserer klassischen Genies, organisiert, wie
sichs ein Deutscher von heute nicht besser vorstellen könnte und
auf kleinstem Raum versammelt, verharrt in ihrer nächsten Um-
gebung, als befände sie sich im luftleeren Raum, Nur Fernwirkung
— Fernsten Wirkung. Zuerst — wo? In Leipzig, Wien, Hamburg,
Frankfurt am Main — in den Großstädten. Woraus hervorgeht,
daß erst eine geistige Atmosphäre von einiger Dichtigkeit vor-
handen sein muß, soll Führerschaft sich auswirken. Wo nichts ist,
1
145
Zeitschrift für künstlerische Kultur
Organ der Hamburger Bühne
3, Jahrgang Heft 4 April 1926
Die Weltstadt ein Kulturzentrum
von Johannes Tralow.
17" ulturzentrum — wieso?
**-Und die Renaissance? Venedig — Weltstadt von dazumal
vielleicht — das könnte noch gehen. Aber die kleinen Fürsten-
höfe Italiens, das Florenz der Medicis? Weltstädte —?
Und gewiß doch Kulturzentren!
In der Tat? Es hat allerdings etwas Bestechendes, dieser Ge-
danke: Freizügigkeit des Genies, Es ist der Geist, der sich den
Körper baut. Nun gar die Stadt! Nichts gilt der Zufall des Ortes.
Denkt an Weimar. Dies Bierdorf zwang dem europäischen Sieger
eine Reverenz ab. Er, der deutsche Fürsten antichambrieren ließ,
erkannte es als einzige Großmacht in Deutschland an, mit der
es zu paktieren galt. Er wußte bereits vor mehr als 100 Jahren,
daß öffentliche Meinung etwas höchst Reales ist. Napoleon und
Goethe, Nicht nur eine Zusammenkunft, Ein Programm!
Weimar — ein Bierdorf. Da liegts. Man versetze sich in jene Zeit
zurück und denke sich die ganze illustre Klassizität verreist, nach
Tölz, Marienbad oder Lauchstädt. Und sei verdammt, die unbarm-
herzig zurückgelassenen Weimaraner ohne Fassade zu genießen.
Wir haben so genaue Berichte zeitgenössischer Zeugen, um uns vor
diesem Greuel genugsam zu entsetzen. Wem aber vor nichts graust,
der setze sich auf die Bahn und fahre ins heutige Weimar. Nicht
zu einem Museumsbesuch und nicht zu einer Klausur. Nein, um
dort mit den verehrlichen Weimaranern zu heulen und ihre Kultur-
seligkeiten zu teilen, Spießer gibts überall; aber unter Kultur-
zentren stellt man sich füglich etwas anderes vor, als eine An-
sammlung von ihnen.
Also fast die Summe unserer klassischen Genies, organisiert, wie
sichs ein Deutscher von heute nicht besser vorstellen könnte und
auf kleinstem Raum versammelt, verharrt in ihrer nächsten Um-
gebung, als befände sie sich im luftleeren Raum, Nur Fernwirkung
— Fernsten Wirkung. Zuerst — wo? In Leipzig, Wien, Hamburg,
Frankfurt am Main — in den Großstädten. Woraus hervorgeht,
daß erst eine geistige Atmosphäre von einiger Dichtigkeit vor-
handen sein muß, soll Führerschaft sich auswirken. Wo nichts ist,
1
145