DER KREIS
Zeitschrift für künstlerische Kultur
Organ der Hamburger Bühne
Sonderheft der Schriftsteller- und Buchwoche
3. Jahrgang Heft 10 Oktober 1926
Aus den Nächtezetteln der Sinsebal
Von Hans Leip
Die Kreuzwege
(Sinsebal wacht nachts auf.)
Ich hörte die Nacht mit den silbernen Stäben spielen, und sie
versprach, mir zur Kurzweil Figuren daraus zu legen. Sie warf
sie auch bald auf die Schattenmatte und sieh, es waren je zwei
übereinandergefallen, so daß sie lauter Kreuze bildeten.
Alles, was ich kann, sagte sie dabei, ist nur eines, und du siehst,
es ist das eine, das alles ist.
Und ich besah mir die Kreuzwege, die sich aus dem Schatten
spulten und im Schatten verspült wurden, und es deuchte mir,
daß sie den Schicksalen glichen. Da deutete die Nacht auf die
Knotenpunkte und ließ sie aufglühen, und ich empfand, daß sie
sich unaufhörlich verschoben, und als ich mich näher bückte, be-
merkte ich auch im Schatten und tiefer als die Stäbe und über-
all bis in die Unendlichkeit Kreuz über Kreuz, und da die Schnitt-
punkte jeweils besonders funkelten, fiel mir verwundert ein, daß
die nächtliche Schattenmatte wohl nichts als der Gestirne
Himmel sei.
Doch verriet ich meine Gedanken nicht, und sie ließ aus den
Leuchtpunkten dreierlei aufwachsen, aus den einen Blumen, aus
den andern springende Brunnen und aus den dritten Fackeln;
aber nirgends waren gleiche Blumen oder gleiche Brunnen oder
gar gleiche Fackeln. Es gab aber auch Stellen, die blieben wie
sie waren, und es wuchs nichts daraus.
Da wurde ich begierig zu wissen, wo meine Punkte seien, aber
die Nacht verlöschte die Sternenmatte und rieb ein wenig mit
dem Daumen an der Fensterscheibe. Das hörte sich an wie ein
kleiner schmatzender Mund, worüber ich vergaß, was ich im
Grunde hatte wissen wollen.
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Zeitschrift für künstlerische Kultur
Organ der Hamburger Bühne
Sonderheft der Schriftsteller- und Buchwoche
3. Jahrgang Heft 10 Oktober 1926
Aus den Nächtezetteln der Sinsebal
Von Hans Leip
Die Kreuzwege
(Sinsebal wacht nachts auf.)
Ich hörte die Nacht mit den silbernen Stäben spielen, und sie
versprach, mir zur Kurzweil Figuren daraus zu legen. Sie warf
sie auch bald auf die Schattenmatte und sieh, es waren je zwei
übereinandergefallen, so daß sie lauter Kreuze bildeten.
Alles, was ich kann, sagte sie dabei, ist nur eines, und du siehst,
es ist das eine, das alles ist.
Und ich besah mir die Kreuzwege, die sich aus dem Schatten
spulten und im Schatten verspült wurden, und es deuchte mir,
daß sie den Schicksalen glichen. Da deutete die Nacht auf die
Knotenpunkte und ließ sie aufglühen, und ich empfand, daß sie
sich unaufhörlich verschoben, und als ich mich näher bückte, be-
merkte ich auch im Schatten und tiefer als die Stäbe und über-
all bis in die Unendlichkeit Kreuz über Kreuz, und da die Schnitt-
punkte jeweils besonders funkelten, fiel mir verwundert ein, daß
die nächtliche Schattenmatte wohl nichts als der Gestirne
Himmel sei.
Doch verriet ich meine Gedanken nicht, und sie ließ aus den
Leuchtpunkten dreierlei aufwachsen, aus den einen Blumen, aus
den andern springende Brunnen und aus den dritten Fackeln;
aber nirgends waren gleiche Blumen oder gleiche Brunnen oder
gar gleiche Fackeln. Es gab aber auch Stellen, die blieben wie
sie waren, und es wuchs nichts daraus.
Da wurde ich begierig zu wissen, wo meine Punkte seien, aber
die Nacht verlöschte die Sternenmatte und rieb ein wenig mit
dem Daumen an der Fensterscheibe. Das hörte sich an wie ein
kleiner schmatzender Mund, worüber ich vergaß, was ich im
Grunde hatte wissen wollen.
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