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Der Kreis: Zeitschrift für künstlerische Kultur ; Organ der Hamburger Bühne — 3.1926

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Heft 12 (Dezember)
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https://doi.org/10.11588/diglit.47625#0623
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DER KREIS
Zeitschrift für künstlerische Kultur
Organ der Hamburger Bühne
3, Jahrgang Heft 12 Dezember 1926

Zum Thema: Europa
Von Walter Heinsius
'E'ines Tages erreicht unvermeidlicherweise jede neue Wahrheit
-L-'das kritische Stadium, wo der von keinem Verantwortungs-
bewußtsein gehemmte modische Pöbel sich ihrer bemächtigt und
sie damit in Gefahr bringt, dem hämischen Gespött der ewig Ge-
strigen, der ewigen Dunkelmänner anheimzufallen. So weit ist es
heute mit Nietzsches Wort vom „guten Europäer“ gekommen. Als
es zuerst ausgesprochen wurde, in der vollsten Blütezeit des Natio-
nalismus, war es eine höchst unzeitgemäße, höchst unverständliche,
weil die geschichtliche Entwicklung von mehreren Jahrzehnten
vorwegnehmende Forderung, die den wenigen hellen und unbe-
fangenen Geistern, die fähig waren, sie zu fassen, und kühn genug,
an ihrer Verwirklichung mitzuarbeiten, den Vorwurf der Gesin-
nungslosigkeit oder gar das Odium der Lächerlichkeit oder des
Irreseins eintrug. Heute, da die Idee Europa sich durchgesetzt hat,
wobei in Parenthese anzumerken bleibt, daß ihr ursprünglich aristo-
kratisch-kosmopolitischer Charakter eine Veränderung ins Soziale
oder eine Bereicherung ums Soziale erfahren hat, heute also, da
nichts mehr zu befürchten ist, reichen sich die internationalen
Snobs das Wort vom guten Europäer als Erkennungszeichen zu,
und da sie es glücklich zum Rang einer modischen Phrase degradiert
haben, ist dem nationalistischen Obskurantismus aller Länder der
billigste Stoff zur Satire gegeben. Richtete sie sich gegen Europa
als Phrase des ewigen Uptodatetums, so wäre es gut; aber sie
richtet sich gegen die Sache, indem sie nur als Mode hinstellt, was
leider auch Mode ist, wenn sie es nicht gar vorzieht, mit rostigen
Waffen aus dem Arsenal der romantischen Ideologie ins Feld zu
ziehen.
In dieser Situation scheint es gut, scheint es das einzig Nötige,
den Begriff, der durch Trübungen und Fälschungen von zwei Seiten
so sehr in Frage gestellt ist, zu klären, und jede Bemühung, die da-
hin zielt, zur Kenntnis zu bringen und zu begrüßen. Mir sind von
solchen Bemühungen in der letzten Zeit drei Bücher bekannt ge-
worden, die zudem in enger Verwandtschaft untereinander stehen,

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