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Der Kreis: Zeitschrift für künstlerische Kultur ; Organ der Hamburger Bühne — 7.1930

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Nr. 5 (Mai)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43618#0339
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Bauten nicht nur Teilnahme zu erreichen, sondern Leidenschaften
auszulösen, mag es sich um die „Wohnmaschine für ein Existenz-
minimum” handeln oder um die Neugestaltung eines ganzen Stadt-
bildes. Le Corbusier ist ein soziologisches und künstlerisches Phä-
nomen wie kein Architekt der letzten Jahrzehnte vor und neben
ihm — vielleicht weil er wie keiner alle technischen Mittel, die
das Produkt unseres Wirtschaftens sind, zur Grundlage einer künst-
lerischen Gestaltung macht, die ebensoviel europäische Tradition
wie kühne Neuerung enthält; vielleicht weil er sich dieser Leistung
mit jener calvinistischen Auserwähltheit bewußt ist, die ihm eine
vollkommene Sicherheit für sich und die Sache gibt.
Durchblättert man das Gesamtwerk von 1910—29 (erschienen im
Verlag Dr. H, Girsberger & Cie., Zürich, 1930), so erlebt man ein
Drama, wie es so erregend und aufrüttelnd kein Dichter der Ge-
genwart geschrieben hat. Die Häßlichkeit unserer Häuser und Städte
wird uns grauenhaft bewußt und zeigt uns unmittelbar die Dumm-
heit moderner Gehirne und die Niedrigkeit des modernen Ethos.
Wie eine Fata morgana erscheint das, was wir sein könnten, wenn
wir Verstand und Willen endlich brauchen wollten, um die nächst-
liegenden Dinge hier auf Erden zu ordnen. Die Häuser Le Cor-
busiers rufen trotz der Geschlossenheit ihrer Kuben, der Ruhe ihrer
Ebenen, dem Strömen von Licht und Luft, dem Wohllaut der
Gliederungen wie Fanfaren zur Besinnung, zur Tat — als sei es
unsere letzte Minute, in der wir uns frei zum prometheischen Ge-
stalter entschließen könnten. Je weiter wir blättern, desto weiter
wird der Schauplatz des Dramas, die Zwiespältigkeit und Dialektik
unserer Gegenwart. Einmal: obwohl der Architekt das Bestreben
hat, für ein anständiges Wohnen bei Existenzminimum zu sorgen,
wird er durch den Druck unserer Wirtschaftsordnung stets von
neuem dahin getrieben, den Reichen Stätten des Luxus zu bauen,
— Dann: obwohl der Architekt die ganze Breite vom Einzelhaus
bis zum Städtebau umfaßt, hat er kaum Aufträge für Fabriken,
Warenhäuser, Bureaus bekommen. Ferner: die Gesellschaft der
Nationen läßt sich ihr Haus bauen. Man verwirft das Projekt des
einzigen Genies und läßt sich ein „mausole representee” erstellen.
Und doch träumt Le Corbusier weiter von dieser westeuropäischen
bürgerlichen Gesellschaft; er erträumt ihr in Genf ein Mundaneum,
ein Gehirn und einen Geist, gefaßt in Beton und Glas. Und auf
der nächsten Seite — nicht bloß Projekt, sondern Tat — der Cen-
trosoyus in Moskau; Genf: die Verlängerung von Rom-Moskau:
der Anfang einer neuen Welt. Le Corbusier schreibt: „Ich analy-
siere die Elemente, die den Charakter unserer Zeit bestimmen, an
die ich glaube und von der ich nicht nur die äußere Erscheinungs-
form zu verstehen suche, sondern ihren tiefen Sinn, und deren
geistige Struktur darzustellen mir der eigentliche Sinn der Archi-
tektur zu sein scheint,” Aber er hat den Zeitgeist durchschaut, war
ihm Moskau eine Lehre oder sieht er gar in Genf eine Synthese

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