Bilder hineinschmuggelt, wie er Zeuge der geheimsten überirdischen
Vorgänge ist: der Verkündigung an Maria beiwohnt, als einer der
heiligen drei Könige das Christuskind anbetet, unter dem Kreuze
mit den Auserwählten trauert, wie der Glanz von Alltag und Wirk-
lichkeit den Himmel auf die Erde herabzieht und irdische Märchen-
pracht das göttliche Mysterium verdrängt, dieses alles an Bildern
abzulesen, die Gesetzmäßigkeit dieses Wandels zu erkennen, das
einzelne in einen großen Zusammenhang einzureihen, ist ein unsag-
bar großartiges, tief beglückendes Erlebnis,
Dem Naturalismus des 15, Jahrhunderts, der Freude am Detail
bereitet das 16, ein jähes Ende, Die Lust am Erzählen um des Er-
zählens willen, mit den vielen eingestreuten Episoden, verkümmert,
der Inhalt der Geschichten wird ernst genommen, das Wunder hat
wieder Platz im Bilde, und die Welt vernimmt das Rauschen eines
hochpathetischen Stils,
Die Träger der gesamten Entwicklung: Giotto, der bezaubernde
Fra Angelico, bei dem das Mittelalter noch einmal durchbricht, der
große Masaccio, Castagno mif seinem herben Realismus, Uccello,
der Fanatiker perspektivischer Probleme, Domenico Veneziano mit
seinen bezaubernden Profilbildnissen und Predellen, Botticelli, der
Malerdichter mit seiner schwermütigen Venus, derber, irdischer
die beiden Brüder Piero und Antonio Pollaiuolo — keiner von ihnen
hat in London gefehlt. Der Carton der Anna selbdritt und eine Reihe
wunderbarer Zeichnungen, in denen sich ein neues kosmisches
Empfinden offenbart, haben die schmerzliche Süße bezeugt, die über
Leonardo da Vincis Werk liegt, Raffaels kristallinische Klarheit in
Farbe und Form sprach aus seiner Esterhazy Madonna (Budapester
Museum) und den frühen Bildnissen des Ehepaares Doni,
Den Gegenpol zu Florenz bildet das sinnenfreudigere, dem Rausch
der Farbe hingegebene Venedig, Giovanni Bellinis zeitlose, so
modern anmutende Allegorien, seine düstere Pieta aus Rimini, Gen-
tile Bellinis Bildnis eines weißbärtigen Dogen (aus dem Besitz des
Viscount Harcourt), das schon die Großartigkeit von Tizians Men-
schendarstellung hat, Carpaccios Kurtisanen, still und verhalten wie
Heilige anmutend, Giorgiones Bildnis des Dichters Antonio Brocardo
(aus dem Budapester Museum), ein neues Wissen um menschliche
Einsamkeit und Tiefe kündend, Tizians und Tintorettos rauschend
dramatische, den Sieg der Farbe offenbarende Kompositionen,
Venedigs malerische Kraft verausgabt sich im 16, Jahrhundert
keineswegs, sie ist so groß, daß sie im 18, Jahrhundert noch einmal
zu ganz neuen Lösungen kommt, Tiepolo und Francesco Guardi
nehmen Probleme und malerische Lösungen vorweg, die das Thema
des Impressionismus im 19, Jahrhundert werden,
☆
Auf die Fülle der zum Teil wunderbaren Zeichnungen einzu-
gehen, verbietet der Raum, Malerei überwiegt in einem solchen
Maße und fesselt dergestalt, daß die wenigen plastischen Werke ver-
292
Vorgänge ist: der Verkündigung an Maria beiwohnt, als einer der
heiligen drei Könige das Christuskind anbetet, unter dem Kreuze
mit den Auserwählten trauert, wie der Glanz von Alltag und Wirk-
lichkeit den Himmel auf die Erde herabzieht und irdische Märchen-
pracht das göttliche Mysterium verdrängt, dieses alles an Bildern
abzulesen, die Gesetzmäßigkeit dieses Wandels zu erkennen, das
einzelne in einen großen Zusammenhang einzureihen, ist ein unsag-
bar großartiges, tief beglückendes Erlebnis,
Dem Naturalismus des 15, Jahrhunderts, der Freude am Detail
bereitet das 16, ein jähes Ende, Die Lust am Erzählen um des Er-
zählens willen, mit den vielen eingestreuten Episoden, verkümmert,
der Inhalt der Geschichten wird ernst genommen, das Wunder hat
wieder Platz im Bilde, und die Welt vernimmt das Rauschen eines
hochpathetischen Stils,
Die Träger der gesamten Entwicklung: Giotto, der bezaubernde
Fra Angelico, bei dem das Mittelalter noch einmal durchbricht, der
große Masaccio, Castagno mif seinem herben Realismus, Uccello,
der Fanatiker perspektivischer Probleme, Domenico Veneziano mit
seinen bezaubernden Profilbildnissen und Predellen, Botticelli, der
Malerdichter mit seiner schwermütigen Venus, derber, irdischer
die beiden Brüder Piero und Antonio Pollaiuolo — keiner von ihnen
hat in London gefehlt. Der Carton der Anna selbdritt und eine Reihe
wunderbarer Zeichnungen, in denen sich ein neues kosmisches
Empfinden offenbart, haben die schmerzliche Süße bezeugt, die über
Leonardo da Vincis Werk liegt, Raffaels kristallinische Klarheit in
Farbe und Form sprach aus seiner Esterhazy Madonna (Budapester
Museum) und den frühen Bildnissen des Ehepaares Doni,
Den Gegenpol zu Florenz bildet das sinnenfreudigere, dem Rausch
der Farbe hingegebene Venedig, Giovanni Bellinis zeitlose, so
modern anmutende Allegorien, seine düstere Pieta aus Rimini, Gen-
tile Bellinis Bildnis eines weißbärtigen Dogen (aus dem Besitz des
Viscount Harcourt), das schon die Großartigkeit von Tizians Men-
schendarstellung hat, Carpaccios Kurtisanen, still und verhalten wie
Heilige anmutend, Giorgiones Bildnis des Dichters Antonio Brocardo
(aus dem Budapester Museum), ein neues Wissen um menschliche
Einsamkeit und Tiefe kündend, Tizians und Tintorettos rauschend
dramatische, den Sieg der Farbe offenbarende Kompositionen,
Venedigs malerische Kraft verausgabt sich im 16, Jahrhundert
keineswegs, sie ist so groß, daß sie im 18, Jahrhundert noch einmal
zu ganz neuen Lösungen kommt, Tiepolo und Francesco Guardi
nehmen Probleme und malerische Lösungen vorweg, die das Thema
des Impressionismus im 19, Jahrhundert werden,
☆
Auf die Fülle der zum Teil wunderbaren Zeichnungen einzu-
gehen, verbietet der Raum, Malerei überwiegt in einem solchen
Maße und fesselt dergestalt, daß die wenigen plastischen Werke ver-
292