ERSTES KAPITEL.
DAS APSIDALGEMALDE ZU REICHENAU-NIEDERZELL.
GESCHICHTE DER AUFDECKUNG UND OBJEKTIVER BEFUND.
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■ ER Wunsch, einen Teil der Universitäts-
M F ferien 1900 zu einer archäologischen
Untersuchung auf der Insel Reichenau zu ver-
wenden, führte im August des verflossenen Jahres
die Verfasser auf das liebliche Eiland im Boden-
see. Von den drei erhaltenen Kirchen der Insel,
den Wahrzeichen einer tausendjährigen Kultur,
stehen das Münster als alte Abteikirche und
die St. Georgskirche in Oberzell, letztere zumal
seit der Aufdeckung ihrer Wandgemälde, schon
lange im Mittelpunkte des kunstgeschichtlichen
Interesses. Dagegen fand die bislang getünchte
und verzopfte Pfarrkirche St. Peter und Paul
zu Niederzell, wenn sie auch das Grab des
Bischofs Egino von Verona (f 802) umschliefst,
von einem baugeschichtlichen Aufsatze Adlers
abgesehen, in der Litteratur keine erhebliche
Beachtung. Mehr reizte das harmonische Ge-
samtbild der dreischiffigen Kirche am Seegestade
mit ihrer stimmungsvollen, in grüne Helmdächer
auslaufenden Doppelturmanlage den Pinsel des
Landschaftsmalers. Einer erneuten bau- und
kunstgeschichtlichen Durchforschung dieses ehr-
würdigen Bauwerkes, vorab einer Entfernung
der Tünche galt daher die Untersuchung, die jetzt
in der Zeit vom 20. August bis zum 17. Sep-
tember 1900 durchgeführt wurde. Sie erfolgte
im Einverständnis mit dem grofsherzoglichen Kon-
servator der kirchlichen Altertümer Badens, Herrn
Geh. Hofrat Professor Dr. F. X. Kraus, und hatte
Künstle-Beyerle, Keichenau-Niederzell. ]
sich der Unterstützung der grofsherzoglichen
Regierung zu erfreuen. Durch die liebens-
würdige Dienstwilligkeit, welche der derzeitige
Pfarrherr von Niederzell, Herr Josef Pliegauf,
den Verfassern angedeihen liefs, förderte er ihre
Arbeit in wesentlicher Weise.
Der Erfolg war ein überraschender und
glänzender. Aufser einer Reihe von Wand-
malereien aus jüngerer Zeit barg die Tünche
in der Hauptapsis der Kirche hinter dem Hoch-
altar ein der frühromanischen Kunstperiode zu-
zuweisendes, den gröfsten Teil des Apsidalraumes
füllendes Gemälde. Zu den bedeutenden Denk-
mälern des Reichenauer Kunstkreises, der sich
uns in den letzten zwanzig Jahren in St. Georg
in Reichenau-Oberzell, in Burgfelden auf der
schwäbischen Alb und zuletzt in der kleinen
Kapelle zu Goldbach bei Überlingen am See ge-
offenbart hat, trat ein viertes Werk jener ältesten
Malerschule Süddeutschlands. Sein hervorragen-
der Wert besteht, das wurde alsbald klar, darin,
dafs sich das jüngstbekannte Wandgemälde auf
Reichenau von den übrigen Werken entfernt, ohne
doch den Zusammenhang mit ihnen zu verlieren,
und uns damit einen unschätzbaren Einblick in
die Entwicklung der Reichenauer Wandmalerei
verstattet. Ein vergleichendes Heranziehen der
Bilder von Goldbach ist allerdings erst dann
möglich, wenn dieselben der Öffentlichkeit durch
die Publikation übergeben sein werden, die der
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DAS APSIDALGEMALDE ZU REICHENAU-NIEDERZELL.
GESCHICHTE DER AUFDECKUNG UND OBJEKTIVER BEFUND.
I \
■ ER Wunsch, einen Teil der Universitäts-
M F ferien 1900 zu einer archäologischen
Untersuchung auf der Insel Reichenau zu ver-
wenden, führte im August des verflossenen Jahres
die Verfasser auf das liebliche Eiland im Boden-
see. Von den drei erhaltenen Kirchen der Insel,
den Wahrzeichen einer tausendjährigen Kultur,
stehen das Münster als alte Abteikirche und
die St. Georgskirche in Oberzell, letztere zumal
seit der Aufdeckung ihrer Wandgemälde, schon
lange im Mittelpunkte des kunstgeschichtlichen
Interesses. Dagegen fand die bislang getünchte
und verzopfte Pfarrkirche St. Peter und Paul
zu Niederzell, wenn sie auch das Grab des
Bischofs Egino von Verona (f 802) umschliefst,
von einem baugeschichtlichen Aufsatze Adlers
abgesehen, in der Litteratur keine erhebliche
Beachtung. Mehr reizte das harmonische Ge-
samtbild der dreischiffigen Kirche am Seegestade
mit ihrer stimmungsvollen, in grüne Helmdächer
auslaufenden Doppelturmanlage den Pinsel des
Landschaftsmalers. Einer erneuten bau- und
kunstgeschichtlichen Durchforschung dieses ehr-
würdigen Bauwerkes, vorab einer Entfernung
der Tünche galt daher die Untersuchung, die jetzt
in der Zeit vom 20. August bis zum 17. Sep-
tember 1900 durchgeführt wurde. Sie erfolgte
im Einverständnis mit dem grofsherzoglichen Kon-
servator der kirchlichen Altertümer Badens, Herrn
Geh. Hofrat Professor Dr. F. X. Kraus, und hatte
Künstle-Beyerle, Keichenau-Niederzell. ]
sich der Unterstützung der grofsherzoglichen
Regierung zu erfreuen. Durch die liebens-
würdige Dienstwilligkeit, welche der derzeitige
Pfarrherr von Niederzell, Herr Josef Pliegauf,
den Verfassern angedeihen liefs, förderte er ihre
Arbeit in wesentlicher Weise.
Der Erfolg war ein überraschender und
glänzender. Aufser einer Reihe von Wand-
malereien aus jüngerer Zeit barg die Tünche
in der Hauptapsis der Kirche hinter dem Hoch-
altar ein der frühromanischen Kunstperiode zu-
zuweisendes, den gröfsten Teil des Apsidalraumes
füllendes Gemälde. Zu den bedeutenden Denk-
mälern des Reichenauer Kunstkreises, der sich
uns in den letzten zwanzig Jahren in St. Georg
in Reichenau-Oberzell, in Burgfelden auf der
schwäbischen Alb und zuletzt in der kleinen
Kapelle zu Goldbach bei Überlingen am See ge-
offenbart hat, trat ein viertes Werk jener ältesten
Malerschule Süddeutschlands. Sein hervorragen-
der Wert besteht, das wurde alsbald klar, darin,
dafs sich das jüngstbekannte Wandgemälde auf
Reichenau von den übrigen Werken entfernt, ohne
doch den Zusammenhang mit ihnen zu verlieren,
und uns damit einen unschätzbaren Einblick in
die Entwicklung der Reichenauer Wandmalerei
verstattet. Ein vergleichendes Heranziehen der
Bilder von Goldbach ist allerdings erst dann
möglich, wenn dieselben der Öffentlichkeit durch
die Publikation übergeben sein werden, die der
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