Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Künstle, Karl [Editor]; Kraus, Franz Xaver [Honoree]
Die Pfarrkirche St. Peter und Paul in Reichenau-Niederzell und ihre neuentdeckten Wandgemälde: eine Festschrift Franz Xaver Kraus zum 60. Geburtstag am 18.8.1900 — Freiburg (i.Br.), 1901

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.7768#0031
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
doppelchörigen Anlagen beliebt werden. Zwischen
793 und 798 entsteht der grofsartige Neubau
Saint-Riquier zu Centula in der Normandie mit
einem Doppelchor. Um das Jahr 800 baute man
an die Salvatorkirche zu Fulda eine Westapsis.
Aus welchem Grunde geschah dies? In beiden
Kirchen verehrte man als Patron den Erlöser;
in beiden hatte man aber auch die Gebeine eines
heiligen Stifters, den man als zweiten Patron auf-
nehmen wollte, nämlich in Centula den hl. Richa-
rius und in Fulda den hl. Bonifatius. Zu Ehren
beider entstanden die Westapsiden. Ganz ähnlich
liegen die Verhältnisse in St. Gallen, wo in dem
bekannten Baurifs des 9. Jahrhunderts auch eine
Westapside eingezeichnet ist. Bemerkenswert ist
weiter die Thatsache, dafs es fast ausschliefslich
grofse Klosterkirchen sind, die Raum für viele
Mönche brauchten, wo uns die Westapsiden be-
gegnen. So erhielt im Anfange des 11. Jahr-
hunderts Reichenau-Mittelzell seine Westapside,
die äufsere Veranlassung dazu gab wohl die Er-
werbung der Gebeine des hl. Markus. Schon etwas
früher entstand in dem kleineren Oberzell die
Westapside; aber hier fehlt eine Hauptapside im
Osten. Nach diesen Erwägungen ist es rein histo-
risch betrachtet ganz unwahrscheinlich, dafs die
kleine Eginozelle in Niederzell, das immer ein
bescheidenes Stift blieb, neben den drei Apsiden
im Osten noch eine Westapside aufwies. Auch
besafs unsere Kirche in Niederzell nicht einen
berühmten heiligen Leib, zu dessen Ehre man
etwa die Westapside erstellt hätte; denn Egino
war kein Heiliger und wurde auch auf der Insel
nicht als solcher verehrt.

Wir würden zwar diesen aprioristischen Er-
wägungen kein so grofses Gewicht beilegen,
wenn der Baubefund irgend welchen Anlafs für
die Trennung der Ostteile von dem Langhaus
und für die Annahme einer Westapside böte.
Das ist aber keineswegs der Fall, wie sich
aus einem wichtigen Gesichtspunkte bereits er-
geben hat.

Wie kam aber Adler auf seine verfehlte
Hypothese ? Wie aus seinem Texte deutlich er-
sichtlich ist, hat ihn der Umstand dazu veran-
lafst, dafs die beiden Seitenchöre gegen die

Nebenschiffe mit einer Mauer abgeschlossen sind.
In beiden Mauern nimmt Adler Thüren an. Nun
aber besitzt die Abschlufsmauer an der nördlichen
Seite eine solche Thüre nicht, wie sich nach
Entfernung des davorstehenden Altaraufbaues er-
wiesen hat; auch ist diese Mauer nicht ursprüng-
lich, weil sie im Gegensatz zum Wackenbau der
ganzen übrigen Kirche aus unregelmäfsigen Bruch-
steinen besteht und weder mit der nördlichen
Umfassungsmauer noch mit der Chorwand orga-
nisch verbunden ist. Sie mufs spätestens im
13. Jahrhundert erstellt worden sein, weil sie
gegen das Nebenschiff hin mit Gemälden aus
dieser Zeit versehen ist.

Weiter besitzt der nördliche Seitenchor noch
zwei Quermauern, die Adler nicht in seinen Plan
eingezeichnet hat; die eine c cl befindet sich etwa
2,5 m hinter der eben besprochenen Mauer, die
andere f(j unmittelbar vor der kleinen Apside.
Auch die Mauer cd ist nicht ursprünglich, denn
sie steht sowohl von der Chormauer wie von
der nördlichen Aufsenmauer um mehrere Centi-
meter ab. Sie ist aber älter als die Mauer ab,
denn die Thüre in ihr ist so eingerichtet, dafs sie
von Westen her geöffnet resp. geschlossen wurde.
Diese Einrichtung ist aber undenkbar in einer Zeit,
wo die Mauer a b schon stand; denn man konnte
ja in den Raum zwischen ab und cd weder vom
Nebenschiff noch vom Chor her gelangen.

Etwas anders verhält es sich mit der Ab-
schlufsmauer k l des südlichen Chörleins mit ihrer
Thüre, deren Konstruktionsweise nach Adler
karolingisch ist. Dieser Behauptung ist des-
wegen kein Gewicht beizulegen, weil auch die
Thüren e und i, die er ins 12. Jahrhundert
verlegt, genau so gebaut sind. Aber auch die
Mauer kl ist sicher später eingesetzt worden,
und zwar aus folgenden Gründen:

1. Sie hat mit der südlichen Umfassungs-
mauer keinen Verband und steht von dieser um
5 cm ab; mit der Chormauer ist durch Aushauen
von Steinen und Einfügen von Verzapfungen ein
loser Verband hergestellt. An allen übrigen Stellen
der Kirche dagegen, wo zwei Mauern senkrecht
aufeinander stofsen, sind die Mauerverbände ganz
solid und sorgfältig hergestellt.
 
Annotationen