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1. Der Spruch der Toten an die Lebenden.

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wendet werden. In den alt- und frühchristlichen Grabschriften begegnet er
uns niemals, wohl ein sicheres Zeichen, daß er in der sepulkralen Sprache
des christlichen Altertums und des frühen Mittelalters unbekannt war.

Wie schon gesagt, ist er erst aus dem 11. Jahrhundert zu belegen, und
zwar auf der Grabschrift des hl. Petrus Damiani (gest. 1072), die beginnt:
Quod nunc es, fuimus; es, quod sumus, ipse futurus.

Im 12. Jahrhundert findet er in etwas veränderter Form Verwendung
auf dem Grabmal des Petrus Comestor (gest. 1179?) in der Abtei
St Viktor:

Quod sumus, iste fuit: erimus quandoque, quod hic est1.

Um einige Jahrzehnte älter ist das Epitaphium des Magister Obizo
ebenda mit dem Wortlaut :

Respice, qui trausis, et quid sis, disce, vel unde;
Quod fuimus, nunc es; quod sumus, illud eris 2.

Dem Schreiber des Codex Sangallensis Nr 556 saec. XI scheint unser
Spruch vor Augen geschwebt zu haben, wenn er der Vita Haimhrammi,
episcopi Ratisbonensis, folgendes Distichon vorausschickt:

Quisque legas hominum, mentem tractaudo revolve,
Quid sis, quid fueras quidque manere queas.
Hoc opus ad vestrum scripsi devotus honorem
Nec mihi quid melius quam pietatis amor 3.

In der Legende des heiligen Abtes Silvester, des Gründers der Silvestriner
(gest. 1267), wird mit besonderer Wichtigkeit hervorgehoben, daß der junge
Kleriker an dem. Grab eines vornehmen Verwandten in die Worte ausbrach:
„Ego sum, quod hic fuit; quod hic est, ego ero." 4 Der Biograph Silvesters
ist der Meinung, daß diese Worte unter dem Eindruck einer besondern gött-
lichen Erleuchtung gesprochen wurden, und der Verfasser des dem hl. Silvester
gewidmeten Offieiums hat sie für so wichtig gehalten, daß er sogar in der
Oration auf sie anspielt. Und doch ist das Dictum St Silvesters nichts anderes
als ein im 13. Jahrhundert wohlbekanntes Zitat.

Das Auftauchen dieses sepulkralen Spruches in einer Zeit, die weder in
ihren sprachlichen Formen noch im materiellen Inhalt ihres Denkens originell
war, legt aber doch den Gedanken nahe, daß wir es hier mit einer Entlehnung
zu tun haben. Sollten wir die Quelle nicht bei jenem Volke suchen müssen,
das gerade vom 11. Jahrhundert ab einen so großen Einfluß auf die Literatur
des Abendlandes ausübte, nämlich bei den Arabern ?5

Der arabische Dichter Adi, der mit dem Könige von Hira, Noman
(um 580 n. Chr.), an Gräbern vorbeiritt, läßt die Toten dem Könige zurufen:

Wir waren, was ihr seid;

Doch kommen wird die Zeit,

Und kommen wird sie euch geschwind,

Wo ihr sein werdet, was wir sind 6.

1 R. Köhler, Kleinere Schriften II 33.

- Neues Archiv der Gesellschaft für ältere
Geschichte XI 606.

3 Vgl. Mon. Germ. Script, rer. Merov. IV 461.

1 Vgl. Breviarum Romamim z. 26. November.

6 Vgl. Burdach, Sitzungsberichte der
kgl. - preufi. Akademie der Wissenschaften,
Berlin 1904, Nr 28, wo die Möglichkeit eines

arabischen und orientalischen Einflusses auf
die Entstehung des mittelalterlichen höfischen
Minnegesangs erwogen wird (Exkurs zu dem
Aufsatz: Die älteste Gestalt des Westöstlicheu
Diwans, S. 898 ff).

6 Vgl. C. Ritter, Erdkunde, 12. Tl;
Arabien, 101, und Monatsberichte der Berliner
Akademie 1858, 512.
 
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