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Bund Deutscher Kunsterzieher [Editor]
Kunst und Jugend — N.F. 6.1926

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Heft 1 (Januar 1926)
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Reinke, Oskar: Verborgene Kräfte im Zeichen- und Kunstunterricht
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https://doi.org/10.11588/diglit.23685#0020
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15

Verborgene Kräfte im Zeichen- und Kunstunterricht

(Psychologische Beobachkungen von

Als der Philosoph Rousseau hungernd als Flücht-
ling von Parts ins Land floh, fand er an der Land-
straLe zusallig einen Fetzen Zeitung auf dem die
Preisaufgabe: „Ob der Fortschritt der Wissenschaft
und Künste zum Berderben oder zur Beredelung der
Sitten beigetcagen hat", zu lesen war. Bon dieser
Aufgabe wuröe sein llnneres öerart erschüttert, daß
er ohnmächtig zusammenjank unü einige Tage krank
darniederlag, bis er mit Feuereifer an die erfolg-
reiche Oösung des Problems ging.

Welche Arjachen waren es, die in dem Phtlosophen
derartige Kraste auslösten und solche Wechselwir-
kungen hervorrufen konnten?

ES sind innere, verborgene Kräfte und Zusammen-
hänge, üie machtvoll auf die schöpferijche Gestal-
tungskraft des Bienschen einwirken und die 1. im
Problem jelbst, 2. in der individuellen seelischen Ber-
anlagung und 3. in den angebahnten seelijchen Be-
ziehungen ruhen.

Dte stärksten Kräfte, die Ursache und Wirkung
zur Ausiöjung bringen, liegen im Problem jelbst,
öessen Uösung der einzelne Mensch jowie ganze
Bolksgemeinschaften juchen. Unter „Problem" ver-
stehen wir eine Ausgabe, welche noch nicht gelöst ist
und dle erst dann zur Lösung gelangt, wenn in dem
Menschen ein Beriangen darnach wachgerufen wird.
Bor meinen Augen steht .ein Btldnis Albrecht
Dürers in unserem Zeichensaal, wie er sinnend und
nachdenkend mit leuchtenden Augen vor jeiner Ar-
beit sitzt. Der Künstler schafft fich selbst seine Pro-
bleme, die sich aus sejnem önnenleben hervordrän-
gen; der Schüler dagegen wird vor Probleme ge-
stelit, die der Lehrer rhm nach reiflicher Ueberlegung
und hervorgegangen aus den bisherigen Leistungen,
vorlegt. Gleichzeitig beobachten wir ost, daß ebenso
wie der Echüler auch der Lehrer Mit ihm imnrer
wteder vor neue ähnliche Probleme gestellt wird.

Während im jugendlichen Alter das Empfinden
vorherrscht, tritt mit den Entwicklungsjähren scharfes
Beobachten und logisches Denken hinzu, so datz sich
diese drei Eigenschaften alsdann notwendigerweise
ergänzen. Die Seele wird im denkenden Alter zur
Unfruchtbarkeit verurteilt: wenn dte Denkkrast voll-
ständig ausgejchaltet wird.

Kraftnaturen und Talente bewältigen die Pro-
bleMe nust spielend und gehen ruhig und sicher über
das Ziel des Problems in einem gewissen Berhält-
nis hinaus, während die Durchschnittsnatur je nach
verschiedenen Boraussetzungen einmal talkrästig, ein-
mas jchleppend dem Ziele zustrebt.

Mehr als der Franzose neigt der Deuksche zu grüb-
lerijchen Problemen, wobei aber lmmer wieder die
individuelle Beranlagung ausschlaggebend ist. Der
deutsche Knabe entfacht jetzt jeine angeborene
Krast weniger ln der phantastischen Welt eines
Raturvolkes, sondern entwickelt sie in reiferen 3ah-
ren aus den Lebensnotwendigkeiten der Zetztzeit und
dem tieferen Gefühlsleben des gesamten deutschen
Bolkes. Daß stark hervörlretende Stammeseigen-
chasten ofk die Ursachen für auffallende Begadungen
stnd. zeigt uns Haydn, der als geborener Ungar die
iärksten künstlerijchen Kräfte aus jener geheimnis-
vollen Urkraft eines geheimnisvollen Bolksstammes,
Empfinden verwandt und leicht verständlich ist.

Oskar A e i n k e, Iserlohn Westf.)

Kann und muß der Zeichenlehrer diese Crschei-
nungen beachten? 3al

Wir Aienschen werden so oft ergriffen von den
Erscheinungen in der Natur und Staunen und Be-
wunöerung, ja einen wohligen Schauer fühlen wir»
wenn plötzliche Äiaturgewalten uns überraschen. 2m
Dichter, Aiusiker und bildenden Künstler aber werden
seelische Kräfte ausgelöst, die in solchen Augenblicken
den Grund legen zu den großen Schöpfungen unserer
Kunst. Zwar haben wir uns daran gewöhnt, das
künstlerische Schaffen nur auf den Menjchen zu be-
ziehen und erkennen nicht mehr üen Zujammenhang
mit dem Wirken und Weben in der Aaiur. Wir
sehen und erleben nur, der gottbegnädete Künstler
aber sieht und ahnt. Mir sehen in der Natur den
Rhythmus der Bewegungen als eine fortlaufends
Kette von Beränderungen, niemals aber eine losge-
löste Einzelbewegung. Bei dieser Gelegenheit möcyte
ich auf dle Filmteistüngen der Naturforschenden
„Senckenbergjchen Geselljchaft" in Frankfurt ä. M.
hinweisen, in denen die Blumey in ihrer üpplgen
Pracht wie lebend sich vor unsern Aügen mit ihrem
Linien-, Form- uyd Farbenspiel entfaltsn. Hier wlrd
das Belauschen des geheimsten Werdens zu einem
Erleben, zu einer Auslöjung stärkster tnnerer Kräfte.
Zwischen den ursächlichen Zusammenhängen in der
Aatur und den seelischen ZusamMenhängen im Men-
schen bestehen gewisse Aehnlichketten. Auch in öer
Kunst regt weniger -as Ferlche zu neuem künst-
lerijchem Schaffen an, sondern der Wechsel» das
Lebendige und Beränderliche. Wie ein dauernder
Frühling unsere Seele nach und nach abstumpst, da-
gegen der Wechsel von Frühling und Winter unser
Dasein durchflutek und anregt, so kann auch nur
das Werdende und sich Gestaltende in der Kunster-
ziehung frische Kräfte auslösen.

Neben dem Empfinden für das rein Schöne be-
ohachten wir starkeBorliebe für Kampferscheinungen.
Datz verschiedene Künstler diese Erscheinüng erkannt
und benutzt haben, zelgen uns die Kampfszenen von
Rubens, Lionarda da Bincis «nd anderer. Datz fer-
ner der Kampf gleicher Kräfte als künstlerisches
Mokiv etn stärkeres Mitklingen unserer Seele her-
vorruft als üer ungleicharstge braucht wohl nicht be-
kont zu werden. Ader unwillkürlich verlangen wtr
nach einem Ausklingen. Diesen Ausklang offensicht-
lich oder versteckt herbeizuführen ist Sache des Künst-
lers. Ebenso verhälk es sich 1n der Äatur. ^ Hier
offenbart flch der Ausklang durch Entstehen oer
manigfachsten Formbildungen und Farbstimmungen.

Die uyerschöpflkchen Formen in der Natur stnd
Folgeruttgen aus dem Kampfe zwischen der Schwer-
kraft und dem Streben zum Sonnenlicht. Schon
die einfachsten langrunden Formen des Lichblatkes
verkörpern entsprechend dem Charakter des Bau^
mes ein ruhiges kraftvolles Auswirken der beiden
Naturkräste in dem festen ruhigen Aufbau mit sei-
nem welligen Rande, dereü Wellen her Sonnenkräft
zu stch entwickeln, während die Schatlacheiche in
ihrer strotzenden Kraft die Farben 1m Herbst bis züm
Farbenrausch und die FormeN von der ruhlgen Welle
zu den Ausstrahlungen entwickelt. Die VaturforMen
zeigen in chrer Entwickelung etwas, däs unserem
EmpfindeN verwandt und leicht verständlich tst. -
 
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