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erste Periode eines im gleichen Geiste, nur unter ver-
schiedenen Modifikationen, fort und fort sich entwickelnden
Systems vom 8ten bis ins löte Jahrhundert! Wer
deßhalb in diesen Geist zu dringen sich bestreben will,
wird in den ersten Perioden, wo die Knospen zu treiben
beginnen, den Gong des Organismus wohl am deut-
lichsten beobachten können. — Um ein Beispiel anzufüh-
ren, so hat die neudeutsche Malerschule, unter ihren
Koryphäen Overbeck und Cornelius, damit begonnen,
zuerst den frühsten Perioden, der Vorraffaelischen Zeit,
am Innigsten sich zuzuwenden. — Hiemit soll indeß kei-
neswegs gesagt seyn, daß die Art und Weise, wie die
Theorie im vorliegenden Werk entwickelt ist, anders zu
wünschen scy. Die Theorie läßt sich wahrscheinlich nur
am vollendeten Systeme Nachweisen, vielleicht hätte indeß
im Terte die frühere Zeit mehr berücksichtigt werden
können. — Ich will mit diesen Voraussetzungen auf ganz
etwas Anderes hinaus. Nämlich dahin, für das gothische
Princip alles ihm Zugehörige zu einer großen Gesammt-
maffe zu vindiciren. Es ist dieses Princip ja das selbst
eigene Product der sämmtlichen christlichen Bevölkerung
Europa's, gänzlich frei vom Einflüsse der Antike, deren
Ucberreste, wenn auch anfangs materiell angewandt, so-
gleich im Beginn zum eigensten Walten verbraucht wurden.

Vergegenwärtigen wir uns nun, welchen großen
Zeitraum die Periode der vorgothischen Kunst umfaßt
vom 8ten bis in's 12te Jahrhundert, und welchen Bezirk
sie auf der Charte einnimmt, vom gelobten Lande bis
Portugal, von Malta bis Norwegen; so ist deren Bc-
deutenhcic wohl uni so mehr gesichert. Alle Nationen
christlich europäischer Cultur haben an dem großen Web-
stuhle gewirkt, und herrlich sind die Gewebe, wie von
einem Meister beaussichtigt, mit nur geringen nationalen
Abschweifungen, gerathen, immer und immer harmoni-
scher sich ausbildend. Schnaase in seinen „niederländi-
schen Briefen" vergleicht diesen Styl sehr treffend mit
dem canto fcrmo des alten Kirchengesanges! Den
Rundbogen höchstens in den Kreuzgewölben verlassend,
entwickelt der frühe Styl schon fast sämmtliche in der
späteren Gothik angewandten Formenmotive. — Mit

im byzantinische» Reiche schon ein Styl entwickelt? und
liegt derselbe der von nun an sich geltend machende» Archi-
tcklur zum Grunde? Das Abfaserungsprincip, welches als
Hauptcyaraktcriflik aller Gotyik gleich vom Anfang an sich
herausflellt, ist im Gegentheil durchaus nicht von Byzanz
ausgegangen, und har vielmehr von dem übrigen Europa
auch dorthin seinen Einfluß ausgeübt. Indem nun in Ita-
lien, Frankreich und Deutschland eine stets fortschreitende
Normenausbildung von Niemand geleugnet werden wird, rückt
dagegen eine eigentliche Styldurchbildung im Byzantinischen
nicht aus der Sielle. Weyhalb den» eine» höchst beschrankten
ersten Anstoß zur Bezeichnung eines Stylcs gebrauchen, der
aus sich selbst die folgerechteste Entwickelung darlegt!

Eiuemmale tritt dcr Spitzbogen ein. Ich sage mit
Einemmale, denn es ist bemerkeuswerth, daß der älteste
Spitzbogen, besonders in England, 1 und auch sonst
überall, der allerzugespitzteste ist, und deßhalb lanzetten-
förmig (Jancet) genannt wird. Und demnach ist hiemit
das Hauptcharakteristische des vorgothischen Styls, welches
keineswegs allein im Rundbogen besteht, noch nicht
durchlaufen, denn die Fensteröffnungen bleiben für erst
noch klein, wenigstens schmal, vermehren sich aber nach
und nach, und reihen sich (was an den gewöhnlichen
platten Enden des Chores in England besonders
deutlich zu Gesicht tritt) bis zu sieben, ja sogar bis zu
neun an der Zahl dicht nebeneinander. Alsdann werden
eben so plötzlich diese Fensteröffnungen zu einer großen
gesammelt, welche durch die bekannten Steingurtcn
(ti-acei-v) Unterabtheilungen erhält, und das Walten
der zweiten gothifchcn Periode ist festgesetzt (1200).

Cs gibt ein vortreffliches englisches Buch: „sin

silleinpl ko discriminate liie stylcs of Architccture in
England Hy Thomas Rickma». 4te Ausgabe. London,
Longmann, 1835," worin die gothische Architektur in
Vier Perioden getheilt wird. INorman style biSIIcnryll.
1189- Early English style bis Edward I. 1307. Dc-
coraled English style bis Edward III. 1377. Perpcn-
dicular English style bis 1600. Die Perioden werden
alsdann in den einzelnen Architekturtheilen nach ihrer
Verschiedenheit charakterisirt, gleichwie der Botaniker
die Pflanzen nach ihren Theilen bestimmt. Diese Ein-
theilung ist in England ziemlich allgemein angenommen,
obschon der feinere Kenner die dort beschriebenen Haupr-
äste des gothische» Stammes noch reicher auszuzweigen
versteht. Dieses Buch ist angelegentlichst zu empfehlen,
cs wäre wohl einer Uebertragung werth nnd könnte wohl
einer Anwendung auf die continentale Architektur zum
Grunde gelegt werden.2

1 In England, wo seit der Eroberung dcr Normanne»
keine Kriege mit fremder Hand zerstört haben, sind die
Gebäude alter gothische» Perioden auf eine bewunderungs-
würdige Weise erhalten. Es gibt nur Ruinen aicS dcr gewaltsam
richtenden Zeit Heinrich's viii. über die sich auflehnenden
Aebte. Seit beinahe achtzig Jahren haben die Besten der
Nation dem Studium dieser Monumente sich zugewandt.
Die wohlerhaltcnen Archive waren hierbei für die Zeit-
bestimmungen besonders ausgebend, lind so ist cs daselbst
möglich, die chronologische Reihe in einer Reinheit zu ver-
folgen, wie es auf dem Continent bei den vielfachen Hem-
mungen während der Bauzeit, bei dcr her- und hinübcr-
wirkendcu Werkthätigkeit nicht ansässiger Gilden, bei de»
großen Verwüstungen der letzten Jahrhunderte nicht möglich
ist. Ich werde deßhalb diese in Deutschland weniger bekannten
Forschungen im Folgend,n b,^ond,rs bertlcksichtigen.

- Dieser Maßstab der Eintheilung ist auch schon von
einigen englischen Autoren, welche über ausländische Archi-
tektur handeln, angewandt.
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