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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 25.1914

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Schmidt, James: Die Sammlung Semenow-Tianschanski in der Ermitage
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https://doi.org/10.11588/diglit.6191#0278
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KUNSTCHRONIK

Neue Folge. XXV. Jahrgang 1913/1914 Nr. 37. 5. Juni 1914

Die Kunstchronik und der Kunstmarkt erscheinen am Freitage jeder Woche (im Juli und August nach Bedarf) und kosten halbjährlich 6 Mark.
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leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Qewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Hospitalstr. IIa.
Abonnenten der Zeitschrift für bildende Kunst erhalten Kunstchronik und Kunstmarkt kostenfrei. Anzeigen 30 Pf. die Petitzeile; Vorzugsplätze teurer.

Die nächste Nummer der Kunstchronik, Nr. 38, erscheint am 19. Juni

DIE SAMMLUNG SEMENOW-TIANSCHANSKI
IN DER ERMITAGE
Jeder Freund holländischer Malerei, der Petersburg
besucht hat, kannte das fern vom Zentrum der Resi-
denz gelegene vornehm-einfache Haus, das der im
März verstorbene Wirkliche Geheimrat Peter Petro-
witsch Semenow-Tianschanski, Mitglied des Reichsrats,
Senator und Ritter der Orden des hl. Andreas und
Pour le merite, bewohnte, umgeben von seiner Samm-
lung niederländischer, hauptsächlich holländischer
Gemälde. Den meisten dieser Wenigen, die den Weg
nach dem nordischen Palmyra bisher fanden, war es
vergönnt, die über siebenhundert Bilder zählende
Galerie unter Führung des ehrwürdigen Besitzers in
Augenschein zu nehmen, denn auch im Patriarchen-
aller ließ er nicht von dieser Gewohnheit ab und
geleitete seine Gäste durch all die nicht großen Wohn-
räume, deren Wände Bild neben Bild bedeckte. Emsiger
Fleiß und eindringliche Sachkenntnis hatten über ein
halbes Jahrhundert zusammengewirkt, um hier eine
Kollektion von seltener historischer Vollständigkeit im
Laufe eines langen Lebens zusammenzubringen, — und
doch war dieses eifrige Sammeln nur ein kleiner
Ausschnitt aus dem reichen Leben P. P. Semenow-
Tianschanskis. Als Forschungsreisender in Zentral-
asien, besonders im Gebiete des Tianschan, woher
der ihm verliehene Ehrenname abgeleitet ist, als einer
der nächsten Mitarbeiter Alexanders II. beim großen
Werke der Bauernbefreiung, als Organisator der russi-
schen Reichsstatistik, als Geograph und als Entomolog,
als Parlamentarier im Reichsrat, dem russischen Ober-
hause, nicht zuletzt amtlich und außeramtlich als Phi-
lanthrop, hat er sein arbeitsreiches Dasein im Dienste
des Zaren und des Vaterlandes als echter Idealist
verbracht. Sein patriotischer Idealismus bewog ihn
auch, seine Galerie unter günstigsten Bedingungen
an die Kaiserliche Ermitage abzutreten, obwohl dieses
für ihn und seine Erben ein bedeutendes materielles
Opfer bedeutete.

Große Mittel haben P. P. Semenow-Tianschanski
nie für seine Erwerbungen zu Gebote gestanden, aber
auch mit solchen hätte sein vornehmer, schlichter
Sinn nie nach Schaffung einer Renommiergalerie ge-
standen. In ihm, dem gelehrten Geographen und
Statistiker, lebte ein exakter wissenschaftlicher Geist
und dieser erfaßte in den sechziger Jahren des ver-
flossenen Jahrhunderts die rechte Möglichkeit in Peters-
burg eine Privatsammlung zu schaffen, die neben der
Ermitagegalerie, die gerade damals in Lethargie zu
versinken begann, eine innere Existenzberechtigung
besitzen konnte. Das entsprechende Gebiet waren
die holländischen, weiter auch die übrigen nieder-

ländischen Meister geringeren Ranges, deren Werke
damals in großer Masse, in trauriger Folgeerscheinung
der Bauernemanzipation, von dem verarmenden Land-
adel auf den Trödelmarkt geworfen wurden. Gleich-
zeitig begannen auch die Beziehungen Semenows zum
ausländischen Kunsthandel, die sich in seltenem gegen-
seitigen Vertrauen entwickelten und erhielten. Fünfzig
Jahre und mehr hindurch arbeitete P. P. Semenow-
Tianschanski daran, seine Galerie nach der wissen-
schaftlichen Seite hin als Ergänzung der Ermitage-
galerie auszubauen. Im Jahre 1910 erlebte er die
Genugtuung, sein Ziel erreicht zu sehen: seine Samm-
lung ging, ziemlich als halbes Geschenk, an die
Ermitage über, wobei ihm das lebenslängliche Nutzungs-
recht natürlich zugestanden wurde.

Als der Hochbetagte im vorigen März doch schließ-
lich unerwartet einer Lungenentzündung erlag und seine
Bilder vertragsmäßig in die Ermitage überzuführen
waren, blieb zunächst nichts übrig, als sie im Depot
zu verstauen, hatte doch die Ermitage, wie die Neu-
ordnung von 1912 schlagend bewies, längst nicht
mehr Platz für ihre alten Bestände. Es war unter
diesen Verhältnissen ein glücklicher Gedanke, die
Elite der Sammlung in provisorischer Aufstellung
zugänglich zu machen.

Einmal konnte damit eine Gedächtnisausstellung
geschaffen werden, weiter aber auch der Öffentlichkeit
im Auszuge vorgeführt werden, welche Bereicherung
der Ermitage die Erwerbung der Galerie Semenow-
Tianschanski brachte. Ende April wurde diese Aus-
stellung im Treppenhause der Ermitage und der daran
stoßenden Skulpturengalerie eröffnet. Auch bei ihr
hat Platzmangel die Durchführung des Programms
gehindert, manches Elitestück der Sammlung, das in
ihren Rahmen gehörte, mußte wegbleiben: eine wunder-
bar feine Winterlandschaft von A. v. d. Neer, das
Konzert von Dirck Hals, ein Frauenporträt von Ant.
Palamedes, der Infant Ferdinand von Rubens (Werk-
stattreplik), Landschaften von Uden, Molyn, Dubois und
G. de Heusch, die Ruhe auf der Flucht von A. v.
Nieuland, Marinen von S. de Vlieger und Backhuyzen,
Is. v. Ostades Winterlandschaft, Bramers Kruzifixus und
Droogsloots Barmherziger Ritter, um nur eine ganz
zufällige Auswahl zu nennen.

Trotz dieser Lücken bietet die Gedächtnisausstellung
genug Material, um die Sammlertendenzen P. P. Se-
menow-Tianschanskis zu illustrieren. Unter den Por-
träts finden wir als Perle die Witwe des Admirals
von Baien von Abr. v. d. Tempel von 1670 und die
beiden Selbstbildnisse (1649 una" 1662) von Barth,
v. d. Heist, einen sehr feinen Backfisch von Hendr.
v. d. Vliet (1645) und eine sehr schlichte alte Frau
 
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