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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 25.1914

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Schmidt, James: Die Sammlung Semenow-Tianschanski in der Ermitage
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https://doi.org/10.11588/diglit.6191#0279

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Die Sammlung Semenow-Tianschanski in der Ermitage

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von Jac. G. Cuyp; mehr ins Sittenbildliche fallen die
alte Dame von Adriaen v. Ostade und erst recht der
Jäger von Simon Kick. In der für den Besteller
auffälligen Verkleidung als Juda und Thamar (I. Mos.
Kap. 38) hat Bol ein vornehmes Liebespaar mit großer
farbiger Delikatesse gemalt und ihm in der biblischen
Maske ähnlich hat Flinck in seiner Bathseba (1659) em
treffliches Halbaktbildnis geliefert. Aus älterer Zeit
ist in dieser Reihe noch der Giovanni Grimaldi des
jüngeren Josse van Cleef zu nennen. Auch noch in
jene frühere Zeit, die für P. P. Semenow-Tianschanski
doch nur eine beiläufige Rolle spielte, gehört die reiz-
volle patinierhafte Landschaft mit der Ruhe auf der
Flucht nach Ägypten, die, bisher meist als »Unbekannt«
aufgeführt, nach den neuesten Taufen Jan Hollander
zugeteilt wird. Halb Landschaft, halb Figurenbild ist
gleich ihr die duftige »Anbetung der Könige« vom
älteren Jan Brueghel.

Die religiöse und historische Malerei finden Ver-
tretung durch Pieter Lastmans Abraham und die
Engel, Gerard Segers Verleugnung Petri, die wie eine
Vorahnung von Rembrandts gleichnamigem Gemälde
in der Ermitage wirkt, Moeyaerts Beschneidung der
Söhne Mosis. Aus nachrembrandtischer Zeit in Salo-
mon de Brays Hagar, Barend Fabritius' Ruhe auf der
Flucht und Ruth und Boas (1660) und dem prächtigen
hl. Sebastian von Aert de Gelder. Als Repräsentanten
des mythologischen Genres treten Uitenbroeck mit zwei
Bildern, Dirck Dalens und Berchem auf, an die zwei
ganz vortreffliche Allegorien vom Haager Samuel
Smit, seine einzigen bekannten und bezeichneten Bilder,
anzuschließen wären.

Die Geschichte des Sittenbildes beginnt auf der
Ausstellung mit dem großen Namen Pieter Aertszens
und dessen Fischhändler, um durch Bueckelaers
Küchenszene und durch die derbe und lustige
Kirmeß von Karel van Mauder weitergeführt zu
werden. Zwei Bilder von Esaias v. d. Velde be-
deuten die nächste Etappe. Das klassische Sittenbild
verlangt eine ziemlich lange Liste: Is. v. Ostade,
Bauernhochzeit, zwei Steens ungewöhnlich großen
Formates, Adriaen Brouwer, Kneipe (eine Perle!),
Esaias Boursse, Flicken der Trommel, Ludolf de Jonghe,
Jagdszene, Quirin Brekelenkam, zwei Interieurs (leider
fehlt das dritte der Sammlung) und Dirck Hals, Kneipe,
sind ihre besten Namen, denen füglich auch Frans
Verwilt mit der »Witwe des Alchymisten« (1674) wegen
der vertieften Auffassung und des wunderbaren Vor-
trages anzuschließen ist. Selbst für Philips Wouwer-
man, der in der Ermitage nächst der Dresdener Galerie
am reichsten vertreten ist, bringt die Galerie Semenow-
Tianschanski eine wesentliche Bereicherung durch ein
Reiterstück. Ein höchst amüsantes und kunstkritisch
pikantes Bild sind »Armbrustschütze und Milch-
mädchen«, die früher A. v. d. Venne hießen, jetzt aber
zumeist Judith Leyster zugeschrieben werden, während
vereinzelt auch an J. M. Molenaer gedacht wurde.
Schwer kann man entscheiden, ob man ein porträt-
haftes Genrestück oder ein genrehaftes Porträt in dem
entzückenden, feinfarbigen Bilde eines jungen Mädchens
mit Hund von Kaspar Netscher vor sich hat.

An der Spitze der Landschaften steht Jacob J. v.
Ruisdael mit seiner Winterlandschaft, Salomon und be-
sonders Jacob d.J. machen ihm erfolgreich Konkurrenz.
Neben die drei Stücke Goyens (1631, 1634, 1647)
tritt Pieter Nolpe, dessen zweites bezeichnetes Stück
der Ausstellung fernblieb. Decker und Heeremans
seien angeschlossen und neben den Landschaften
Emanuel de Witters licht- und farbenreiches Kirchen-
inneres genannt. Um bei der Klasse zu bleiben und
da ja die verhältnismäßig wenigen Viamen keine ge-
sonderte Kategorie dieses Berichtes zu bilden haben,
ist hier auch Teniers Landschaft mit dem Regenbogen
zu nennen, die gleich dem Reiter von Wouwerman
eine unerwartete erstklassige Bereicherung der sonst an
Teniers übermäßig begüterten Ermitage bilden wird.

Unter den Stilleben der Galerie Semenow-Tian-
schanski begegnet man in dem großen Hummerstück
von Frans Hals d. J. einem wahren Kapitalstück far-
biger Leistung. Kalff, Heda und Putter (Beyeren muß
vermißt werden) kommen trotz aller hohen Qualität
ihrer Bilder nicht gegen dieses Prachtbild auf.

Außerhalb aller Rubra, zumal es sich um die
Ermitage handelt, ist der Rembrandt der Galerie zu
nennen: ein kleiner Studienkopf, dessen Replik in der
Sammlung Johnson (Abb.: Valentiner, Klassiker d.
Kunst II, 3. Aufl. S. 3561, Bode RW. 579) vorhanden
ist. Für die Rembrandtsammlung der Ermitage ist
dieses Bildchen freilich nur ein kleiner Beitrag, den-
noch füllt er eine historische Lücke, da dieser Typus
Studienköpfe um 1645—55 ihr bisher fehlte.

Diese eilig hergezählten Namen und ein Blick in
den Ermitagekatalog lassen das wohlerwogene System
erkennen, nach dem die Galerie Semenow-Tianschanski
zusammengetragen wurde. Der Zahl nach jedoch be-
deuten die Bilder der Ausstellung nur einen geringen
Bruchteil der Sammlung. Die Masse bilden doch
Stücke qualitativ geringeren Ranges, doch auch für sie
galt das gleiche Sammelprinzip: Ergänzung der Er-
mitagegalerie. Die Sammlung zählt nicht weniger als
234 Meisternamen mit 305 Gemälden, die in der
Ermitage bisher nicht vertreten waren, für über 150
Meister gewinnt die Ermitage durch die große Neu-
erwerbung charakteristische Ergänzungen, nicht uner-
wähnt bleibe, daß der Katalog Semenow elf Gemälde
als bezeichnete Unika verschiedener nur literarisch be-
kannter Meister aufführt; unter den über vierzig un-
bekannten Meistern und Monogrammisten wird noch
manche interessante Entdeckung zu machen sein. In
Summa bringt die Galerie Semenow-Tianschanski der
Ermitage ein Studienmaterial sondergleichen und
damit den Grundstock einer Studiensammlung, worin
die große prinzipielle Bedeutung ihrer Erwerbung
beruht.

Verschiedentlich ist die Befürchtung ausgesprochen
worden, die große Flut von Bildern geringeren Grades
würde die Qualitätsgalerie der Ermitage ersäufen,
was sicher richtig wäre, wenn man die alte Ermitage-
galerie und die Kollektion Semenow-Tianschanski als
Monstresammlung vereinigter Niederländer etablierte.
Hingegen wird in der Ermitage schon seit Jahren
die Scheidung der Gemäldegalerie in Schausammlung
 
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