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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 25.1914

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Römischer Brief, [2]
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KUNSTCHRONIK

Neue Folge. XXV. Jahrgang 1913/1914 Nr. 27. 27. März 1914

Die Kunstchronik und der Kunstmarkt erscheinen am Freitage jeder Woche (im Juli und August nach Bedarf) und kosten halbjährlich 6 Mark.
Man abonniert bei jeder Buchhandlung, beim Verlage oder bei der Post. Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden,
leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Qewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E.A.Seemann, Leipzig, Hospitalstr. 11 a.
Abonnenten der Zeitschrift für bildende Kunst erhalten Kunstchronik und Kunstmarkt kostenfrei. Anzeigen 30 Pf. die Petitzeile; Vorzugsplätze teurer.

RÖMISCHER BRIEF

Monna Lisa del Giocondo hat diesen Winter nach
den langen Sommerferien die Bewohner der ewigen
Stadt wieder zu ernsten Kunstbetrachtungen bewogen,
und man muß die Tausende von Menschen gesehen
haben, die auch unter strömendem Regen stundenlang
vor den Gittern der Galleria Borghese warteten, um
zugelassen zu werden, um sich eine Idee dieser großen
Begeisterung machen zu können. Wenn man auch
bedenken mag, daß die Neugierde ihr gut Teil dabei
hatte, so war es bei vielen, bei den meisten wirk-
licher Ernst. Die alte Bewunderung jedes Italieners,
auch des kleinsten für die großen Meister der National-
kunst, ist eben eine Kraft, die noch immer besteht
und aus der noch manches zu hoffen ist. Die alte
Gewohnheit, sich zwischen Kunstwerken zu bewegen,
die Tradition, welche im kleinen Volke unumstoßbar
ist, daß Italiens alte Kunst über alles in der Welt
geht, trägt solche Früchte. Die kleinen Leute, die
aus den entferntesten Stadtteilen am Weihnachtssonntag
unter strömendem Regen nach Villa Borghese wan-
derten, um das Capolavoro di Leonardo zu be-
wundern, waren keine Menschen, die aus Pose sich
diese Qual auferlegten, um nur einige Minuten vor
dem Kunstwerk weilen zu können; es waren Men-
schen, die sich freuten, einmal in ihrem Leben das
Bild sehen zu können, von dem sie immer gehört und
gelesen hatten, und von allen Lippen tönte die Klage,
wie schade es sei, das herrliche Werk wieder Frank-
reich zurückerstatten zu müssen. Die längsten Debatten
wurden darüber geführt, ob es eigentlich recht sei,
dem Nachbarlande, welches voll von hinweggeschlepp-
ten italienischen Kunstwerken sei, das Kleinod Leo-
nardos wiederzugeben. Viele wollten es nicht glauben,
daß König Franz es wirklich gekauft hätte für schweres
Geld und protestierten.

Jedenfalls mußte jeder, der die ruhig lächelnde
Monna Lisa in der Sala del Fauno auf der hohen
Staffelei vor der dunkelgrünen Tapete sah, denken,
wie heimisch sie da aussah, auch wenn draußen der
Regen prasselte und der frostige Dezemberwind die
gelben Blätter über den Rasen peitschte. Gerade in
den Tagen, wo die Gioconda die allgemeine Auf-
merksamkeit in Rom auf sich zog, eröffneten die
Futuristen in Via del Tritone ihren ersten ständigen
Salon in Italien mit einer Skulpturen-Ausstellung
des Malers und Bildhauers Boccioni. Trotz allem
interessierten sich doch eine ganze Menge Menschen
für die eigentümliche Schaustellung und viele konnten
nur beklagen, daß ein so talentierter, tüchtiger Pla-
stiker wie Boccioni sich auf solche Irrwege führen
läßt. Unter anderen ganz tollen Kompositionen
hatte Boccioni eine Büste mit der Inschrift Donna +

scala + luce (Frau + Treppe + Licht). Man sah die
Büste einer alten Frau mit halbem Gesicht und vor
dem Leib gefalteten mächtigen Händen. Auf dem
Kopf zwei Häuser, in der Seite ein Treppengeländer,
auf der linken Seite des Gesichts ein Lichtstrahl. Die
meisten dachten wohl, es handle sich um eine Portiers-
frau, aber darüber ist es mir nicht gelungen, eine
eigene Meinung zu bilden, und ich glaube, daß es
den meisten so gegangen ist, auch bei der »Pro-
jektion«, einer Flasche im leeren Raum, und bei
anderen Kompositionen, in denen Boccioni förmlich
Seiltänzerkunststücke mit zerhauenen Körperformen ge-
trieben hatte.

Jetzt tagt im Futuristensalon eine Ausstellung von
Malereien von Carra, Russolo, Balla, Boccioni und
anderen. Alle beklagen, daß Balla sich zu den Futu-
risten bekannt hat und seine alte, tüchtige Malkunst
ganz und gar vernachlässigt, um sich in Malkünsten
zu experimentieren, die man leichter mit einem kine-
matographischen Apparat erreichen würde. Eine An-
zahl seiner alten Bilder hat er aber in der dreiund-
achtzigsten Ausstellung der alten Societä degli
amatori e cultori di belle arti in Via Nazionale
ausgestellt. Diese Ausstellung, sowie die einer neuen
Gruppe, die sich Probitas nennt, sind vor einigen
Tagen eröffnet worden, da aber die Secessione ihre
Säle noch verschlossen hält, so warte ich noch etwas
mit meinem jährlichen Bericht darüber.

In diesen Tagen ist das Los der herrlichen
Villa Aldobrandini, die mit ihren uralten Pinien
und Cedern die Via Nazionale beherrscht, da, wo diese
hart am Forum Trajanum die große Biegung macht,
um Piazza di Venezia zu erreichen, entschieden worden.
Nach langen Debatten zwischen Fürsten, Stadt und
Kultusministerium ist man zu einer Vereinbarung ge-
kommen, durch welche dem Fürsten erlaubt wird, in
einem kleinen Teil der Villa, weit entfernt von den
zwei Raumprospekten auf Via Nazionale, ein barockes
Kasino zu erbauen. Damit verpflichtet der Fürst sich
und seine Erben, die sonstige Form der Villa nie
mehr zu ändern, so daß man damit das Gleiche er-
reicht wie in Villa Borghese, wo die so hart be-
kämpfte Errichtung des Hauses für das Internationale
Ackerbauinstitut die Villa auf immer vor Neubauten
und Abholzungen schützte. Am anderen Ende der
Via Nazionale, Santa Maria degli Angeli gegenüber,
ist im Zentrum des großen Schaubrunnens der Acqua
Marcia der neue große Triton von Mario Rutelli,
dem auch die wilden Najaden ihr Dasein verdanken,
aufgestellt worden. Leider ist die Skulptur von be-
leidigendem Naturalismus und nicht für jeden Stand-
punkt berechnet, so daß der Beschauer wirkliche Un-
formen zu sehen bekommt, die sich ergeben durch Zu-
 
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