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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 25.1914

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Kern, G. J.: Die Umgestaltung des Potsdamer Rathausplatzes, [1]: eine städtebauliche Betrachtung
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Dreyfus, Albert: Der Pariser Herbstsalon
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https://doi.org/10.11588/diglit.6191#0119

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219

Der Pariser

Herbstsalon

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und Neu; er schafft ferner einen Bau, der vollkommen
aus den Größenverhältnissen des Platzes, für den er
bestimmt ist, herausfällt. Das Beispiel des Berliner
Domes mit seinem Streben nach »Monumentalität«,
welche die einst so harmonische Gesamtwirkung der
Bauten am Lustgarten auf das Schwerste geschädigt hat,
dürfte eine Mahnung sein, in dem vorliegenden Falle
bei der Veränderung des alten Zustandes mit größter
Behutsamkeit zu Werke zu gehen. Videant consules!

DER PARISER HERBSTSALON

Herr Lampue ist ein verdienstvoller Mann. Er
wird demnächst zum Ehrenmitglied des Herbstsalons
ernannt werden. Niemals hat letzterer solchen Zu-
lauf gehabt, als seitdem Herr Lampue im Namen der
neun Musen, der Moral, des Patriotismus im Stadtrat
beantragt hat, nicht mehr das Grand Palais dieser
Künstlergenossenschaft herzuleihen. In hellen Haufen
kommen die Bürger, die den Herbstsalon zuvor kaum
dem Namen nach gekannt haben, um die signalisierten
Ungeheuerlichkeiten in Augenschein zu nehmen, sich
heimlich an ihnen zu ergötzen. Welche Enttäuschung!
Als einzige Sensation die Kubisten und Orphisten!
Nirgends auch nur die leiseste erotische Anspielung;
statt dessen dem Nichteingeweihten unverständliche
geometrische Exerzitien von akademischer Trockenheit.
Zornig ballen die besagten Bürger ihre Faust in der
Tasche gegen ihren Vertreter im Stadtrat, der sie um-
sonst einen Franken hat ausgeben lassen. Nichts-
destoweniger hat Herr Lampue kürzlich den Mut ge-
habt, seinen Antrag zu wiederholen. Ich fürchte, daß
er nicht mehr zieht. Schade für den Herbstsalon.

Immerhin hat der heurige Herbstsalon auf diese
Strömung offiziellen Übelwollens Rücksicht genommen.
Um nicht wie vergangenes Jahr herauszufordern, hat
man den Kubisten und Genossen nicht mehr einen
eigenen Raum bewilligt, sondern sie in alle Säle,
Durchgänge, Vorplätze verteilt, ohne zu bedenken,
daß bei mangelnder Isolierung die Infektionsgefahr
vielleicht um so größer ist. Um konsequent zu sein,
hat man alsdann sämtliche Künstlergruppen und An-
schauungen durcheinandergehängt. Die Wirkung ist
keine günstige. Statt Klarheit: Trübung; statt einer
Spitze: eine Fläche; statt Bewegung: Stillstand und
Verwirrung. Soviel indessen ist offenkundig, die Ku-
bisten haben in den Sälen, in denen sie hängen, nicht
die Führerrolle an sich reißen können. Metzinger,
Le Fauconnier, Gleizes, haben sich in ihren Abstrak-
tionen wie in einer Mausfalle gefangen und finden
nicht mehr zurück zur Natur. Das menschliche Ge-
sicht zerspalten sie auf ihren Bildern, als hieße es
Holz klein zu machen, nur Ziffern, Büchertitel, Teppich-
muster und ihre Unterschriften geben sie intakt wieder.
Paradoxie bis zur Absurdität. Ist der Kubismus so
als positive Leistung bisher wertlos, so interessiert
doch das Protestlerische an ihm. Man hat sich an
der impressionistischen Wiedergabe der Natur, be-
sonders aber an den geistlosen Nachzüglern des Im-
pressionismus so übersättigt, daß eine Bewegung ein-
setzen konnte, die auf ihre Fahne schrieb: »Los von

der Natur! Los von der Natur bis zur absoluten Un-
kenntlichkeit des Gegenstandes!« Ein solcher Weg
führt bald an einen bodenlosen Abgrund, und man
stürzt herein, weil das Auge immer nach rückwärts
gerichtet ist. So sind die Kubisten nicht die Bringer
des neuen Heils, sie sind die Märtyrer einer vergange-
nen Kunstepoche, die sich erschöpft hat.

Aber nicht alle spintisieren sich in ihrer Mausfalle
zu Tode. Schon ist es einigen, die sich weniger im
Dünkel ihrer Sendung aufblähten, gelungen, zwischen
den Stäben zu entwischen und wieder in Kontakt zu
kommen mit einer Realität, die ihre Kunst fruchtbar
macht. La Fresnaye zeigt außer einer mißglückten »Er-
oberung der Luft« einige Aquarelle, deren mangel-
hafte Gegenständlichkeit immerhin aufgewogen wird
durch eine reizvolle Farben- und Flächenverteilung.
Mehr Sinn für Form hat Segonzac. Neben einer völlig
in trüben Farben untergegangenen Sommerszene stellt
er ein Stilleben von zukunftverheißender Gestaltungs-
kraft aus. Trotz der saucigen Farben wird das Bild
durch eine prachtvolle Architektur gehalten. Stelle
ich neben diese beiden noch den Basken Tobeen
mit einer Heiligenszene von bodenständiger Kraft und
Anmut und den Südfranzosen Lhote mit seinem Ta-
lent für wuchtigen Aufbau und großzügige Model-
lierung (seine Farbenzusammenstellungen entbehren
noch der Harmonie), so sind die Maler genannt, die
mir über den Kubismus hinaus neue gangbare Wege
anzuzeigen scheinen.

In der Bildhauerei als einer dreidimensionalen
Kunst hat der Kubismus, d. h. die Gliederung und
Zusammenfassung der Formen in Volumen, mehr
Berechtigung als in der Malerei. So zeigt Duchamp-
Villon ein neuartiges Relief »Ein Mann und ein
Weib, die sich aneinanderschmiegen«. Die Darstellung
beruht allein auf dem Herausholen und Gegeneinander-
balancieren großer einfacher Massen und auf ihre Ein-
schließung in Arabesken. Die Klippe des Schematis-
mus liegt nahe. Duchamp-Villons immer rege Sen-
sibilität vermeidet sie. Auch der Deutsche Wield arbeitet
in seinem Werk »Der Held und das Ungeheuer« mit
solchen Darstellungsmitteln und interessiert. Dieser
Gruppe von Künstlern, denen die Gebärde das Thema
ist, nicht das Geschehnis, reiht sich als einer der
talentiertesten der Österreicher Melzer an. Sein Bild
»Die Speerwerferinnen« ist eine vorzügliche Rhyth-
menstudie. Sie zeigt an, daß das Anstreben einer
höheren Geistigkeit in der Kunst sich wohl mit plasti-
schem Ausdruck verträgt.

Anders verhält sich der Fall Matisse. Es gibt
ernsthafte Leute, die sein Frauenporträt für das beste
Gemälde des Salons halten. Ich kann in ihm nur
eine gigantische Grimasse sehen. Matisse will groß
und einfach sein, er ist es nicht. Der Intellekt treibt
ihn, keine innere Notwendigkeit. Ägyptischer Tempel -
und Statuenstil schwebt ihm vor. Er bedenkt nicht,
daß das Monumentale bei den Ägyptern Instinkt-
äußerung, nicht kühle Abstraktion war. Vielleicht ist
diese forcierte Originalität bei Matisse auf das Be-
streben zurückzuführen, der Umklammerung Cezannes,
wie sie sich auf seinen ersten Bildern genugsam be-
 
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