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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 5.1894

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Seemann, Artur: Natur und Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.4565#0140

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NATUR UND KUNST.

angelo; was wir in den glänzenden Gruppen früherer
Zeit sehen, ist nur die Auslese, die durch schöpfe-
rische Urkraft aus der Finsternis der Vergangenheit
noch hindurchleuchtet. In Wirklichkeit hoben sich
damals diese sichtbar gebliebenen Lichter alter Kunst-
übung nur wenig von einer wahren Milchstraße von
kleineren Individualitäten ab, die inzwischen Vater
Kronos längst wieder verspeist hat. Und soviel ist
sicher, dass ein ungeborenes Auge dereinst, wenn
es die Größen des 19. Jahrhunderts mit rückwärts-
schauendem Blicke prüfen wird, ebenfalls nur die
höchsten noch vom Licht des Ruhms erglänzenden
Spitzen zählen wird, während es die Unzahl derer,
die heute noch das Licht des Tages sehen, alsdann
nicht mehr erblickt, weil sie hinter der unaufhalt-
sam vorrückenden Zeitgrenze, die das Gestern von
Heute scheidet, sich nach und nach verlieren und
in das Nichts rascher zurücksinken, dem auch
schließlich ein Homer, ein Raffael, ein Mozart an-
heimfallen müssen.

Die alten Vorlagen wollen wir ja doch nicht
verachten. Sie sind die Konservenbüchsen, aus denen
in sterilen Zeiten Nahrung geschöpft wird, bis die
Kunst wieder im stände ist, sich von dem alten
Beigeschmack, der jenen Proviantmitteln trotz ihres
Nährwerts innewohnt, frei zu machen, und ihre
Früchte vom Weltenbaume selbst brechen kann, um
sie so frisch und saftig, wie sie sind, zu verspeisen.
Wir, die wir Kinder der Natur sind, saugen nirgends
bessere Nahrung, als an ihrer Brust, wo der kräf-
tigste Stoff stets für uns bereit ist. Freilich oft
sehr kräftig: und wenn die Lebenslinie der Kunst
statt aufzusteigen wieder fällt, schwindet oft den
Individuen die Fähigkeit, die unmittelbare lautere
Quelle der Natur zu erschließen; dann geht ihnen,
was sie umgiebt, nicht mehr in Fleisch und Blut
über, dann ist das, was die Natur bietet, zu kräftig
für die geschwächten Organe. Dann bedarf es ver-
dünnten Stoffes, dann kommen auf die Zeiten der
Unmittelbarkeit, der Ursprünglichkeit die der Nach-
ahmung, der Reflexe. Dann wird nicht der Baum
im Walde, sondern der gemalte im Bilde als höch-
stes gepriesen; dann ahmt man nicht die Natur,
sondern Kunst nach; dann weicht dem Stile die
Manier, und statt künstlerischer Vollreife macht sich
das Virtuosentum breit.

Die ganze Kunstgeschichte sowohl wie der Ent-
wickelungsgang jedes tüchtigen Künstlers beweist,
dass die Beherrschung der Natur eine unsäglich
mühevolle Arbeit voraussetzt, ohne die noch kein
Kunstzeitalter berangebliiht, noch kein Meister sich

bethätigt hat. Die scheinbare Leichtigkeit, mit der
schließlich das Genie die letzten Staffeln bis zum
Gipfelpunkte erklimmt, ist schon das Produkt einer
bedeutenden Anstrengung, die dem gewöhnlichen
Beobachter selten deutlich wird. Man betrachte
aber die Unablässigkeit, mit der ein Dürer sich
beim Zeichnen, ein Michelangelo beim Meißeln, ein
Rembrandt beim Radiren zeigt, so wird man er-
kennen, dass es auch diesen Künstlern nicht leicht
geworden ist, die Meisterschaft, die vor der Nach-
welt besteht, zu erringen. Und auch sie müssen
auf wohlvorbereiteten Boden treten, auch in ihnen
lebt und wirkt noch die ganze Arbeit früherer Ge-
schlechter, ohne die sie die Stufen bis zur Höhe
niemals hätten erklimmen können. Denn in ihrer
Jugend durcheilen sie in wenigen Jahren kraft der
angeborenen, vererbten Fähigkeit mit großer Ge-
schwindigkeit den langen, kmgsam aufsteigenden
Weg, den die ganze Menschheit vor ihnen in Jahr-
hunderten hat zurücklegen müssen. Die Quintessenz
der Arbeit ihrer Vorfahren wird ihnen von Natur
mitgegeben und unsichtbare angeborene Kräfte heben
die Nachgeborenen bald auf die von der Menschheit
errungene Höhe, von der aus sie weiter schreiten.
Und das, was der Künstler alsdann in steter Arbeit
der Natur abringt, kommt wieder der ganzen Mensch-
heit zu gute; es strebt zum Ganzen, auch als Sonder-
arbeit.

Aus diesem Grunde scheint es uns unrecht, die
alten Vorbilder, das Erzeugnis der emsigen Arbeit
der Vorfahren, gering zu schätzen. Freilich dem
Werte der unmittelbaren Natur, die nicht erst durch
das Medium eines menschlichen Sinnes und Herzens
gegangen ist, sind sie nicht gleichzustellen. Aber
mit der Natur wird nur der Kräftige fertig. Schon
Dürer sagte, dass man die Kunst aus der Natur
herausreißen müsse; aber ohne geschulte Kraft ist
das Herausreißen eine schwierige Sache. An den
alten Vorbildern, den Herbarien der Kunstgeschichte,
schult sich am besten die unentwickelte Fähigkeit.
Wohl dem Zeitalter, in dem das natürliche Ver-
langen, die Natur direkt anzupacken und aus ihr
die Kunst herauszureißen, unbezwinglich erwacht:
es ist ein Zeitalter der aufsteigenden Entwickelung,
ein Zeitalter der Jugend, der gesunden Kraft.

Von diesem Gesichtspunkte aus begrüßen wir
jede Bestrebung mit Freuden, die geeignet ist, den
Kunstjünger aus dem Museum, der Schule, in der
er der Erwerbung dar Technik obgelegen, hinaus-
zuführen an den Born, der in der Natur unversieg-
lioh rinnt. Ein solches Bestreben zeigt sich in dem
 
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