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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 22.1911

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Hellwag, Fritz: Die grossherzogliche Kunstgewerbeschule in Weimar: Direktion: Henry van de Velde [zugehörige Abbildungen siehe auch auf den folgenden Seiten]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4361#0229

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GROSSHERZOGL. KUNSTGEWERBESCHULE IN WEIMAR

222


Genugtuung für den schmählich verkannten Künstler
selbst, sondern auch eine Freude für den ehrlichen
Chronisten, wenn einmal wieder Fachleute und Publi-
kum erkennen dürfen und müssen, daß der einst so
schnell emporgeschossene Baum noch lebt und reiche,
reife Früchte trägt! Als ein beweiskräftiges Dokument


Van de Veldescher Art ist die Ausstellung von Schüler-
arbeiten der G roß herzoglichen Kunstgew erbeschule an-
zusehen, die im Juli dieses Jahres in Weimar ver-
anstaltet wurde. □
n Van de Velde ist Philosoph. Er vor allen anderen
spürte der Gesetzmäßigkeit des künstlerischen und
kunstgewerblichen Schaffens nach, er vor allen anderen
gelangte zu einer systematischen Schöpferarbeit. Wohl
hatte er mit allen anderen, damals tätigen Künstlern
dies gemeinsam, daß auch er das Heil vom neuen
Ornament erhoffte; aber wo seine Mitkämpfer den
Niedergang unseres Kunstgewerbes einzig darin zu
erkennen glaubten, daß es mit historischen und aus
versiegten Quellen zusammengestohlenen Ornamenten
sein Leben fristete, und wo sie mindestens anfangs
hofften, alles erreicht zu haben, wenn sie die alten
Formen mit neuen Ornamenten versahen, da hatte
Van de Velde bereits die gesetzmäßige Dynamik des
Ornaments, des alten und des neuen, begriffen und
hatte erkannt, daß gleichzeitig mit dem neuen Orna-
ment auch die neue Form entstehen müßte. Wäre
jene Zeit nur schon von mehr architektonischem
Geiste beseelt gewesen, oder hätte Van de Velde selbst
seine formschöpferische Begabung schon weiter ent-
wickelt gehabt, manche zeitraubenden Irrtümer und
der Verlust kostbarer Jahre wären vermieden worden.
So aber kam Van de Velde zu früh mit seiner logisch
vollkommen richtigen Entdeckung, die gar nicht be-
griffen wurde, heraus. Was bei seinen Mitkämpfern
ein Irrtum, wenn auch nur ein vorübergehender war,
das glaubte man auch als Charakteristikum seiner
Kunst zu erkennen, und da er der Reichste von allen
war, so hatte gerade er, der es am wenigsten verdiente,
das tragische Geschick, von verständnislosen Mit-
läufern am meisten bestohlen zu werden. Ihn hielt
man sich als Schild vor, wenn man barbarisch sündigte
und mit totgeborenen Linien und Schnörkeln alles
und jedes ohne irgendwelche Logik bandwurmartig
beschleimte. Zehn Jahre zu früh kam Van de Velde!
Er selbst hatte seine, gleichzeitig auch formschöpfe-
rische Begabung noch nicht genügend durchgebildet
und niemand war da, der fähig gewesen wäre, ihm
in dieser Hinsicht beizuspringen. Im weiteren Verlauf
der Entwicklung blieb es erst den Wiener Geometrikern
Vorbehalten, den Rhythmus in der dreidimensionalen
Form zu betonen und das ganz allmähliche Wieder-
erwachen des architektonischen Gefühls vorzubereiten.
Die Form wurde geboren, aber nackt, splitternackt!
Wieviel schöner wäre es gewesen, wenn Van de Veldes
»System«: mit der Form zugleich das Ornament zu
schaffen, geglückt wäre! Wenn damals auch die
Kräfte gefehlt haben, so ist doch der gute Wille, die
Priorität der Erkenntnis zu loben. Das Geschick war
aber tückisch: statt der ersehnten Lorbeern bescherte
es Van de Velde das unverdiente und absolute Ver-
kanntwerden! Grollend zog er sich zurück; doch
blieb er sich selbst und seiner Erkenntnis getreu.
Die Früchte dieser Treue liegen vor uns und von
ihnen haben wir zu unserer Freude jetzt zu berichten.

Ornament-Entwurf von Margret Arends
 
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