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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 22.1911

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Hellwag, Fritz: Die grossherzogliche Kunstgewerbeschule in Weimar: Direktion: Henry van de Velde [zugehörige Abbildungen siehe auch auf den folgenden Seiten]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4361#0231

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GROSSHERZOGL. KUNSTGEWERBESCHULE IN WEIMAR

224


Ornament-Entwurf von Max Nehrling

folgt anderen Gesetzen, ist Selbstzweck
und fordert vom Ornamente bedingungs-
lose Unterordnung. Im Ornamente
sollen die in der Architektur wirksamen
Kräfte rhythmisch ausklingen, nicht
umgekehrt! Van de Velde ist ein viel
zu kluger und ehrlicher Künstler, um
nicht einzusehen, daß er keine Ver-
gewaltigung begehen dürfe. Er weiß,
daß das selbständige Leben des Orna-
mentes, das er bis in seine letzten
Konsequenzen genial steigerte und ver-
feinerte, seine Grenzen hat, und daß
zur Baukunst vor allem auch der andere
Teil, eben die Architektur und die
Befruchtung des Ornamentes durch sie
gehört. Er darf aber auch mit Stolz

behaupten, daß er dem, der die Architektur besitzt, in seiner Auf-
deckung der Gesetzmäßigkeit des Ornamentes ein so reiches Hilfs-
material geboten hat, wie es kaum jemals existierte. Zwischen dem,
was Architektur heißt und was Van de Veldesches Ornament be-
deutet, muß sich nun aber ein Ausgleich vollziehen, und Van de
Velde scheint entschlossen und ist zweifellos befähigt, ihn selbst
vorzunehmen. Er fühlt die Krisis, in der er jetzt angelangt ist,
sicher selbst ganz gut; ein Beweis dafür ist, daß er in seiner Schule
eine besondere, krönende Architekturklasse einzurichten beabsichtigt.
Man kann ihn zu diesem Entschluß nur auf das lebhafteste beglück-
wünschen. Würde diese beabsichtigte Ausgestaltung der Schule,
auf die wir noch zurückkommen wollen, etwa neue pekuniäre Auf-
wendungen erfordern, so darf man sagen, daß selbst die höchsten
Kosten hier unter keinen Umständen hinderlich werden dürften!
Gilt es doch hier einen großen Schatz zu heben und ein reiches
künstlerisches Erbe dem deutschen Volke nutzbar zu machen. Wenn
Van de Velde in größerem Umfange die Grenzen des Kunstgewerbes
zur Architektur überschreiten will, so muß man ihm dabei unbedingt
behilflich sein, falls es notwendig wäre, denn die Früchte könnten
köstlich sein. □

□ □



□ Van de Veldes Schüler machen denselben Entwicklungsgang
durch, den er selbst genommen hat, und es haben sich da in Weimar
einige Lehrer und Lernende unter seiner Leitung zusammengefunden,
die, als Material in seinen Händen, den Kern seiner Lehre ganz
vorzüglich auszudrücken verstanden. □
□ Der Stift gleitet über die Fläche und hinterläßt eine Linie.
Diese Linie bedeutet in mehr oder weniger hohem Grade eine Kraft-
entwicklung, sie ist eine Lebensäußerung und besitzt eigenes Leben.
Aber dies Leben ist nicht etwa aus nichts entstanden, sondern es
war vielmehr zu dem Schöpferakt eine Bewegung der Hand oder
des Armes, vielleicht gar des ganzen Körpers des Zeichnenden
erforderlich. Und diese Bewegung des ganzen Körpers oder seiner
Teile wiederum war keine mechanische, zweck- und ziellose, sondern
sie wurde vom Temperament des Zeichnenden veranlaßt und be-
herrscht. So ist die Linie auf der Fläche also ein Ausdruck, eine
Lebensäußerung des menschlichen Temperamentes. Aber eine Be-
wegung bleibt niemals allein; wie der Tanzende instinktiv empfindet,
daß zur Vollendung des ersten Schrittes, der ersten Körperbiegung,
ein zweiter Schritt, eine zweite Biegung gehört, die jene zuerst ent-
wickelten Kräfte durch das Gegenspiel erläutert, so verlangt auch die
Kraftentwicklung, die in jener Linie auf der Fläche noch ungeklärt
wirkt, ihre Auflösung, ihre ästhetische Rechtfertigung. So gilt es,
zu ihr den Gegenzug zu finden. Und nun macht der Suchende
schon bei der ersten Probe eine erstaunliche Entdeckung: mit der
Willkür, die noch in der ersten Bewegung, der ersten Linie gestattet
war, ist es schon jetzt vorbei, soll anders eine ästhetische Befriedigung,
 
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