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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 24.1913

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Matthies, Karl: Volkskunst und Volksgunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.4432#0097

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VOLKSKUNST UND VOLKSGUNST

spuken ja in den Städten noch herum, es ist also nur ein
natürlicher Vorgang, wenn wir ihnen jetzt auch auf dem
Lande überall begegnen. Die beste Überlieferung kann
allmählich verloren gehen. Setzte sich irgend ein groß-
städtischer Protz in einem Dorfe fest, so genügte seine
Bau- und Lebensweise vollkommen, um die ganze Gegend
nach und nach künstlerisch zu veröden. Auch staatliche
Bauten sind in genügender Zahl den Kleinstädtern und
Dörflern als schlechte Vorbilder vor die Nasen gesetzt
worden. Die Freude an der Farbe, der Formensinn, die
Sicherheit im Geschmack, die kindliche Unbefangenheit
und Ursprünglichkeit gingen verloren, die Sucht nach
städtischer aufgeschminkter Vornehmheit trat an ihre
Stelle. Denken wir nur daran, wie der Bauerngarten
sich geändert hat und wie sehr der ländliche Hausbau
den heimatlichen Charakterstil einbüßte! Seitenflügel mit
Dachpappe gedeckt grinsen als kahle Hinterwände in die
Landschaft. Sie verletzen das Empfinden des Wanderers,
der Erholung sucht, aber sie stören ihre kunstentfremdeten
Bewohner nicht. □
d Alles dreht sich! □
□ Die Bauernkunst, oder im weiteren Sinne die Volks-
kunst, ist tot, aber es lebe die Volkskunst! Was wir
bisher nur noch in Museen bewundern konnten, regt sich
leise, beginnt zu leben, und wird, wenn nicht alle Zeichen
trügen, unsere neue allgemeine Kunst befruchten und den
künstlerischen Geschmack des Volkes wieder wecken. Was
die Großstadt verdorben hat, das wird sie hoffentlich auch
wieder gut machen. □
□ Wir haben lange genug gekämpft, geredet, geschrieben,
gerungen für einen guten Geschmack, für einen künstlerischen
Stil. Aber wir Jungen wollten bekehren und schlugen nur
immer um uns herum. Der Sturm galt zuerst den Alten,
dann allgemein den Zeitgenossen und Kunstgewerbe- und
Handwerkerschulen. Es ist viel getan und erreicht worden,
aber das Höchste schlummert noch. Dieses Höchste dürfte
die kommende Jugend schaffen, wenn sie das halten wird,
was sie verspricht: nämlich eine wirkliche Volkskunst. □
□ Wir sind so weit gekommen, den Zeichenunterricht in
den Schulen lebendiger zu gestalten, wir haben jetzt auch
Boden für den Werkunterricht gewonnen, dessen schöner
Erfolge wir uns schon jetzt erfreuen dürfen. Aus dem
erstarrten Zeichenunterricht hat sich der Handfertigkeits-
unterricht entwickelt. Auch die Handarbeitslehre für die
Mädchen beschränkt sich nicht mehr auf das Beibringen
dieser oder jener Sticktechnik. Was gelehrt wird, ist das
Anfertigen des ganzen Stückes, und das ist das Wichtige.
Nach einer ganz neuzeitlichen Vor- und Ausbildung gehen
Lehrer und Lehrerinnen ans Werk und lehren nach ganz
neuen erzieherischen Grundsätzen. Die Forderungen nach
Materialechtheit und- gerechtheit sind durchgedrungen.
Innerhalb dieser Forderungen kommen Form, Farbe und
Schmuck nach Wert und Bestimmung zu ihrem Recht.
Die Welt des schönen Scheins mit all ihren aufgetünchten
Kulissenkünsten muß der inneren Wahrhaftigkeit, der
sichtbaren Logik weichen, und eine allgemeine Geschmacks-
bildung ersteht in der Ferne. □
□ Wenn wir die Ergebnisse dieser Bestrebungen an Lehrer-
und Schülerarbeiten betrachten, dann können wir am besten
den Weg erkennen, den wir seit dem ersten Ansturm zur
Verjüngung unserer Kunst gegangen sind, dann können
wir auch die Arbeit würdigen, die trotz aller Irrtümer auf
kunstschaffenden und kunsterzieherischen Gebieten geleistet
worden ist. Ja, wir, die wir gelehrt und geschaffen haben,
dürfen es heute aussprechen, daß die gewundenen Wege,
das Suchen von Stil zu Stil, das Irren und Wirren not-
wendig waren, um zu der jetzt entstehenden einfachen,
lebendigen Lehrweise, überhaupt zu einer ursprünglichen

Kunstanschauung zu gelangen. Wir haben die Schönheit
des Materials wieder genießen gelernt, wir haben die
Freude an kräftigen Farben wiedergefunden, und verstehen
es wieder, mit einfachen Mitteln, sogar nur durch die Logik
der Konstruktion, feine künstlerische Wirkungen zu erzielen.
□ Was haben wir nun gewonnen? Wir wollen nicht
mehr mit jedem kleinen Werk für das tägliche Leben eine
Offenbarung des noch nicht Dagewesenen geben, wir be-
stehen nicht mehr darauf, das Kunsthandwerk mit einem
Sprung zu neuen Formen und Zielen zu führen. Wir
haben erkennen gelernt, daß das Schöne schön ist, ob es
nun in einem neuen oder alten Stile geschaffen wurde.
So können freie Künstler, so können Lehrer und Schüler
im Streben nach Wahrhaftigkeit und Schönheit, in der Be-
geisterung für das künstlerische Beseelen des täglichen
Lebens alle eigene Wege gehen, ohne von dieser oder
jener Gruppe gestäupt zu werden. o
□ Im Anfänge aller Verzierungsarten stehen der einfache
geometrische und der einfache pflanzliche Schmuck. Linien,
Dreiecke, Vierecke, Kreise, Ovale, Rauten, Sterne, Herzen,
Blumen und Blätter bilden den Ornamentenschatz aller
Naturvölker, und wer wäre nicht schon einmal darüber
erstaunt gewesen, was in Verbindung mit kräftigen Farben
für Wunderdinge daraus sich bilden lassen. □
□ Auch unsere Volkskünstler schmückten mit diesen
einfachen Ornamenten. Bedeutet es nun eine Rückkehr
zur Natur, zur Ursprünglichkeit, wenn Künstler von Ruf
auf diesen kindlichen Schmuck zurückgehen, und wenn er
auch im Handfertigkeitsunterricht zu blühen beginnt! n
□ Alles dreht sich! □
□ Wir gehen auf den Anfang der Schmuckkunst zurück
und bemühen uns um die Jugend. Dieser Weg scheint
der richtige zu sein, denn die Schülerarbeiten lassen er-
kennen, daß die kindliche Phantasie imstande ist, mit
jenen einfachen Elementen der Formen und Farben ohne
Ermüdung künstlerisch zu gestalten. Gebrauchsgegenstände,
die unser Entzücken hervorrufen, von Kindern entworfen
und ausgeführt, müssen erzieherisch wirken. □
□ Das Volk begünstigt heute noch die häßlichen Fabrik-
waren, weil es glaubt, sie seien vornehm. Liebt der Wohl-
habende den Kitsch und das Volk sieht es, so ahmt es
jenem nach, immer im Glauben, nun »vornehm«: zu er-
scheinen. Ein wenig Protzerei ist überall beliebt. Es
käme nun darauf an, diese Schwäche auf die einfache Ge-
brauchskunst hinzulenken. Wenn die Lehrer z. B. einige
Kinderarbeiten aus dem neuzeitlichen Handfertigkeitsunter-
richt mit der ähnlichen geschmacklosen Fabrikware zusammen-
stellten und zum Vergleich für Kinder und Erwachsene auf
das, worauf es hier ankommt, hinwiesen, dann kämen wir
vielleicht doch noch dazu, das Heil nicht nur von der
Jugend zu erwarten. Aber gleichviel: die Kleinkunst und
die Kunstanschauung, im Kreise der Kinder gehegt und
gepflegt, werden ins Land gehen und werben. Schon die
Erkenntnis, daß Kunst nicht bloß in großen Gemälden
und Skulpturen zu suchen sei, wird das jugendliche Kunst-
empfinden und -genießen wieder den Gebrauchsgegenstän-
den für das tägliche Leben zuwenden. Von den Kindern
werden die Eltern lernen. An der Schönheit so nützlicher
Sachen, an den fein durchdachten Formen und lebhaft
spielenden Farben, wie die Jugend sie jetzt erstehen läßt,
wird das Volk nicht achtlos vorübergehen können, denn
diese ausgezeichneten Arbeiten leuchten und locken und
reizen die Begierde zum Besitze. Wo aber erst einmal
diese Eigentumswünsche erstehen, da ist auch der Boden,
der des Bestehens harrt. □
□ Alles dreht sich! n
□ So wird die neu erstehende Volkskunst auch die erhoffte
Volksgunst finden. o
 
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