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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 21,2.1908

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Heft 7 (1. Januarheft 1908)
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Schwindrazheim, Oskar; Avenarius, Ferdinand: Philister, Hinz, Kunz & Cie
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Heuss, Theodor: Lou Andreas-Salomé
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https://doi.org/10.11588/diglit.7705#0024
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will sagen: ohne Kritik. In ernstem Verstande kritisch beurteilen
können ja diese „grauen Iünglinge" nicht mehr, von denen jede
Partei und jede Bewegung soundso viele zu den oft ebenso mensch-
lich rührenden wie sachlich gefährdenden Mitläufern zählt.

Daß diese echten Philister eine Gefahr für den Fortschritt
sind, darüber ist auch Schwindrazheim sicher mit uns einer Meinung.
Sehe ich von Gesinnungslumperei in all ihren Formen und Folgen
ab, so weiß ich meinerseits fürs Vorwärtskommen überhaupt keine
größere Gefahr. Weil der einmal fertige Philister nun nicht anders
urteilen kann, als er urteilt, und, wenn er's anders versucht, zum
Mißverstehen und dadurch Verpfuschen oder zur Anempfinderei und
zum Schwindel kommt.

Was können wir gegen ihn tun? An einflußreiche Stellen tzemmer
sowohl wie Erreger bringen, die keine Philister, die zu sachlichem
Erfassen und Verarbeiten der Aufgaben fähig sind. Was freilich
sehr viel leichter anzuraten als auszuführen ist. Und daneben das
Unsrige tun, daß möglichst wenige Philister entstehen. Wenn
der Mangel an Äbung die Organe verkümmern läßt, so müssen wir
halt dafür sorgen, daß sie geübt werden. Einseitige Menschen ver--
philistern auf der „andern" Seite. Ie vielseitiger eines Menschen Bil--
dung und Tätigkeit, je besser geschützt ist er vor dem Verknorpeln. A

Lou Andreas.Salome

^«^ie Werke von Clara Viebig und Ricarda Huch, deu beiden
^D/Frauen, die unter den weiblichen Schriftstellern des heutigen
Deutschlands die stärrsten Talente sind, stehen zueinander in
der größten Gegensätzlichkeit. Beide verkörpern bis zu einem Grade
ein Prinzip; man kann sie auf eine Formel bringen. Viebig ist
primitiver, vollkommen Erzählertemperament, durchaus vom Stoff-
lichen bestimmt und beengt. In der Darstellung vom Körperlichen,
der Bewegung der Geschehnisse, des Rhythmus einfacher Seelen zeigt
sich ihre große Kraft. Sie geht allen Dingen sehr nahe auf den
Leib, auch den feinen und zarten. Die zerstört sie dabei. Und sie
nimmt von der Schönheit des Geheimen und Traumhaften den
Schleier und den Duft. Die Wirklichkeit ist ihr Leben und ihre Kunst.
Sie hat eine mitschwingende Empfindung für Leidenschaft und für
Instinkte. Ricarda Huch hat Kühle und Verstand. Die Viebig schreibt
und gestaltet, sie erfindet und sormt. Die Dinge der Wirklichkeit
reichen ihr nur die Elemente ihrer Kunst. Es ist als ob unter ihrer
Hand die Schöpfungen der Natur neue Farben erhalten, die Worte
neuen Klang. Die Eindrücke und Erfahrungeu des Lebens gehen durch
einen wohlgebildeten literarischen Geschmack und Willen. Der wird
entscheidend. Ihr romantisches Wesen ist kaum Temperament, son--
dern Literatur. Aber gute Literatur.

Zwischen beiden etwa steht, nach ihrer Art und ihrer zeitgenössischen
Bedentung Frau Lou Andreas--Salome. Nicht als ob ihre Kunst
dem Mittel aus jenen verschiedenen Kräften gleichkomme. Sie scheidet
sich von beiden schon dadurch, daß es unmöglich erscheint, aus ihr
ein Kunstprinzip abzuziehen. Clara Viebig und Ricarda Huch, ihre

b Ianuarheft G08 9 ^
 
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