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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 21,2.1908

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Heft 12 (2. Märzheft 1908)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7705#0451
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freilassen und Lhristus kreuzigen . . . Große Männer, kleine Schwächen,
oder richtiger: große Schwächen. Wir, Monsieur, sind keine Engel ge->
wesen, aber die Vorsehung hat uns zu großen Dingen benutzt. Ist es
ihr gleichgültig, wen sie in die Hand nimmt? Ist es ihr einerlei, wie
wir im Fleisch leben, wenn wir bloß den Geist hochhalten? 8ur8um
ooräail

Was sagt Ihr dazu, Abbä?"

„Das Gesetz kann nicht erfüllt werden, sagt Paulus, aber durch das
Gesetz wird das Schuldgefühl erweckt, und darum ist das Gesetz nur dazn
da, um uns zur Gnade zu treiben."

„Das ist nicht so dumm von Paulus gesagt. Aber ich möchte hinzu-
fügen: Im Gefängnis des Fleisches wächst die Sehnsucht nach Freiheit.
Wer wird mich armeN Menschen von diesem sündigen Leib erlösen? —
Ia, Abbs, vanitL8 vanitstum vanita^! Ihr seid jung, aber Ihr müßt
den Alten nicht höhnen, wenn er sich umwendet und hinter sich auf
all die Erbärmlichkeit spuckt, die er durchgemacht hat. Möge einmal >ein
Geschlecht geboren werden, das sofort weiß, was das Leben wert ist,
sofern es nicht zur Kur gehört, sich mit Schlamm einzuschmierenl"

Ietzt kam eiu schwarzer magerer Mann auf dem Gartenweg ange-
schlängelt.

„Sieh, da habe ich meinen Iesuiten!" sagte Voltaire.

Der Alte hielt es nämlich mit einem Iesuiten, teils wsil der Papst
sie vertrieben, teils weil Friedrich der Große sie aufgenommen hatte;
am meisten aber, um jemanden zum disputieren zu haben. Vielleicht
wollte er auch seine Vorurteilsfreiheit illustrieren, denn er liebte den
unsympathischen Mann nicht.

„Nun, du Kind des Satans," grüßte der Alte, „was trägst du für
Böses im Sinn? Du siehst so schadenfroh aus!"

„Ich komme von Genf", antwortete der Iesuit mit einem boshaften
Lächeln.

„Was tun sie denn dort?"

„Ich sah zu, wie der Henker Rousseaus Emile verbrannte."

„Das können sie meinetwegen tun, und sie hätten den Narren selber
ins Feuer werfen können!"

„Monsieur Voltaire!"

„Ia, Verrückte kann man nicht dulden; es gibt Grenzen!"

„Wo?"

„Das sagt die gesunde Vernunft."

„Ia, dann sah ich auch, wie sie Herrn Voltaires neue Auflage des
Landide verbrannten."

„Ach, schämt Euch! Aber das ist ja ein Pack in Genf!"

„Ein Protestantenpack, mit Verlaub!"

„Geniert Euch nicht; ich hasse Protestanten ebenso lebhaft wie Katho-
liken! Dieser schreckliche Calvin hat ja in Genf seinen eignen Freund
Servet verbrannt, weil er nicht an die Dreieinigkeit glaubte . . . Geniert
Euch nicht! Und wäre Iean Calas in Toulouse Katholik und der Sohn
Protestant gewesen, so hätte ich die Nichter doch angegriffen, obgleich
ich — nichts bin. Ich bin nichts; bloß was ich schreibe, ist!"

„Dann werden wir einmal ein Denkmal für Herrn Voltaires Schriften
errichten, nicht für Voltaire."

j 37H Kunstwart XXI, s2 ^
 
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