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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,4.1910

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Heft 19 (1. Juliheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9020#0033
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Allgemeineres

Rundschau

Tausendgucker

ch liege im Garten in der
Hängematte und blinzle in den
warmen Sonnenschein, der durch
eine Lücke in dem Blättcrwerk des
dichtbelaubten Nußbaumes gerade
mein Gesicht trifft. Leise rauscht
der See, leise spielt der Wind mit
den Blättern. Da kommt mein
Iüngster angelaufen: „Vater, Vater,
guck mal, was ich Schönes habe? Ein
Wunderglas! Wenn man da hin-
durchsieht, sieht allcs bunt aus, rot
und grün und blau und gelb, und
ich sehe alles tauscndmal. Das ist
ein Tausendgucker!"

Ein winziges Stück prismatisch
geschliffenen Glases hält er mir
entgegen, das einmal als An-
hängsel eines Kronleuchters ge-
dient haben mag. Er hält mir
sein Glasstück dicht vors Auge,
und ich muß den Baum und den
See und den ganzen Garten da-
durch besehn. Ieder Gegenstand
zeigt bläuliche und rote Ränder,
und alles schillert und bekommt
wunderliche Formen durch die ver-
schiedene Brechung des Lichtcs.

„Ia," sage ich, „das ist wirklich
etwas Schönes!", und gebe ihm
das Glasstück wicder. In langen
Sprüngen rennt er davon, um
auch seinen Geschwistern den Tau-
sendgucker zu zeigen. Freu dich
nur, mein Kind! Später wirst
du erkenncn, daß die Welt ohne
solche farbigen Ränder an den
Dingen noch viel, viel schöner ist.

Wir Erwachsencn pflegen nicht
durch Tausendgucker mehr die Welt
zu betrachten, haben es auch nicht
mchr nötig, denn, wer offene und
empfängliche Augen hat, der weiß,
daß er nicht einmal alle die un-
zähligen Farben und Formen um
uns herum in sich aufnehmen

kann, die den Dingcn schon von
Natur eigen sind. Die Künstler
beweisen uns ja durch jedes gute
neue Gemälde, daß wir lange nicht
alles an den Gegenständen dieser
Welt wahrnehmen, was ihre
Maleraugen schaun.

Sicherlich haben nicht alle Men-
schen dieselben Bilder von den-
selben Gegenständen in ihren
Augen. Der eine sieht vorzugs-
weise Linien, der andre Flächeu,
der sieht die Farben stärker, jener
schwächer, der eine sieht gcnauer
als der andre, der hat mehr Blick
für Farbenkontraste und jener wie-
der mehr für die Abergänge, dieser
schaut überall Bilder und jener
nux „Dinge". Das sind ganz all-
tägliche Erfahrungen, die man
jeden Angenblick beweisen kann.
Und wie könnte es auch andcrs
sein? Wie kein menschliches Ant-
litz dem andern völlig gleicht, son-
dern ihm höchstens nur ähnlich ist,
so ist's sicher auch mit jedem ein-
zelnen menschlichen Organe, in
anatomischer Hinsicht sowohl wie
in physiologischer.

So sind auch die Gehirne ein-
andcr nur ähnlich und nicht gleich,
und so steht es auch mit der
Arbeit, die ein jedes zu leisten
vermag.

„Selbstverständlichkeiten!" Be°
denkt man sie aber genug?

Wie leicht erregen sich die mei-
sten über einen Gedanken, eine
Anschauungsweise, die für den
eincn Mcnschen naturnotwendig ist
und die in tausend andre Gehirne
durchaus nicht hineinpaßt.

And doch ist unser Iahrhundert
auf dem Wege zu einer all-
gemeinen, allcs Denken verstehen-
den Toleranz. Äber religiöse Dinge
und politische Fragcn pflcgen sich

20 Kunstwart XXIII, lst
 
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