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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,4.1910

DOI Heft:
Heft 21 (1. Augustheft 1910)
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Schultze, Ernst: Kriminalliteratur
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https://doi.org/10.11588/diglit.9020#0173
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ernstlicher und eingehender und in weiteren Kreisen zu beschäftigen. Es
ist ein Gedanke, den wir erörtern müssen, um uns allmählich an ihn
zu gewöhnen. Uns scheint: gerade die Frauenbewegung sollte sich
seiner annehmen. Wenn die Allgemeinheit zu seiner Berwirklichung
die Mittel bereitstellt — die Beschafsung der sehr großen Mittel
ist in diesem Fall wohl keine Nebenfrage — so rvird sie natürlich auch
Leistungen der weiblichen „Einjährigen" nicht nur für sie, die Mäd-
chen, persönlich, sondern auch für sich, die Allgemeinheit, fordern, u n-
mittelbar soziale Leistungen, meinen wir. Kw.-L.

Krimirralliteratur

^^-in englischer Novellist sagte einmal: „Es ist ein äußerst trauriger
E^s*Gedanke, was für ein verzweifelt langweiliges Nest die Erde sein
würde, wenn es nicht unsre Freunde, die schlechten Menschen, gäbe.
Rottet einrnal die Sünde aus, nnd die Literatur wird der Vergangenheit
angehören." Von diesem Gesichtspunkt aus ist der Literatur der weißen
Völker allerdings eine große Zukunft beschieden. Denn zu keiner Zeit
wohl hat das Verbrechen in all seinen Formen so lebhaftes Interesse ge-
fundcn, wie gerade in der Gegenwart. Gewiß ist die Leidcnschaft des
Menschen für Gehcimnisse aller Art und ganz besonders für blutige
Geheimnisse stets vorhanden gewesen und hat vielleicht selbst in den
Seelen der edelsten Mensch.en geschlummert. In der römischen Kaiserzeit
war die Masse des Volkcs trunken von blutigen Gladiatorenkämpfen. An
den kleinen italienischen Höfen des ausgehenden Mittelalters tauchten
die Fürsten ihre Hände in Blut. Die Aufregung aber, die den Menschen
früherer Zeitcn Fechterspiele und blutige Intrigen gcwährten, suchen
die Massen der Gegenwart in dem Todessprung des Zirkusakrobaten.
And da man sich diesen Anblick nicht täglich verschaffen kann, sucht man
Bcfriedigung der Leidenschaft in der Lektüre von Kriminalromanen. Die
Folge ist, daß diese Literaturgattung sich in den lelzten Iahren zu ganz
außcrordentlichem Llmfang entwickelt hat. Das Anschwellcn der Literatur
überhaupt erklärt dies noch nicht zur Genüge. Vielmehr steht die Ver-
mehrung dcr Kriminalliteratur — weun wir alle Bücher, dic sich in
irgendeiner Form mit dem Verbrechen und seinen Erscheinungen be--
schäftigen, unter dicsem Namen zusammenfassen wollen — in gar keinem
Verhältnis zum Wachstum unsrer Gesamtliteratur.

Sicherlich wäre es falsch, zu behaupten, daß das Gefühl für Menschlich-
keit im >9. Iahrhundert nicht zugenommen habe. Vielmehr ist ganz
unverkennbar, daß viele der edelsten Seiten der menschlichen Natur —
namentlich das Mitleid mit unsern Mitmenschen — sich in den letzten
hundert Iahrcn kräftig entwickelt haben. Vielleicht wurde aber gerade
dadurch eine gewisse Gegenwirkung hervorgerufen, die sich nun in der
Vorliebe für möglichst schauerliche und schreckliche Vorgänge äußert. Man
denke an das Wort Oskar Wildes: „Das Verbrechen ist für die niederen
Klassen das, was die Kunst für uns Astheten ist — einfach eine Methode,
um sich außergewöhnliche Sensationen zu verschaffen." Das Leben der
Ecgenwart stellt an jeden einzelnen, und ganz besonders an den Groß-
städter, so schwere Anforderungen, es mißt ihm die Arbeit so überreichlich
und zugleich in den meisten Fällen so einförmig zu, daß er nach ge-
tanem Tagewerk seine erschlafftcn Nerven durch starke Reizmittcl aufzu-

s. Augustheft GjO
 
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