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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,4.1910

DOI Heft:
Heft 24 (2. Septemberheft1910)
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Avenarius, Ferdinand: Vorkämpfer-Werke und Begleiterwerke
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https://doi.org/10.11588/diglit.9020#0422
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Kulturwerte, die im Vergleich zum Neuen, uud sei dieses noch so wert-
voll, immer den von der gesamten Ahnenschaft aufgestapelten tzaupt-
schatz an Nährboden bedeuten, nicht verlieren und nicht mindern,
sonst bezahlen wir das Neu-Eingedeichte mit dem Besten vom alten
Besitz. Sind wir uns dessen immer bewußt bei Bildern, Büchern,
Notenwerken? Tun wir, was wir tun sollten, um den nährenden
Gennß auch am Alterkannten immer wieder zu beleben und zu ver-
tiefen, anderseits, um durch ernsthafte „Aktenrevisionen" auch die
altberühmten literarischen, musikalischen und bildnerischen Kultur-
güter auf ihre Lebenswerte hin immer wieder nachzuprüfen? Wir
leiden ja alle am „Zuviel", wir müssen „abkürzen", wenn wir vor-
wärts wollen. Tun wir „Fachleute" unsre Pflicht, um der Allge-
meinheit behilflich zu sein, auszuschalten, was nur weitergeschlepptes
Gerümpel aus Moden ist, zugleich aber auf das, was standhält, L>ie
Genußfähigkeit immer wieder einzustellen? Helfen wir, das Ererbte
zu „erwerben, um es zu besitzen"? Ferner: sind wir Kunstkritiker
nicht etwa in unsrer überwiegenden Mehrzahl Leute, die, was uns
als Fachmänner am meisten interessiert, deshalb schon für
das Wichtigste zum Weitergeben halten? Als handelte sich's
bei unsern Lesern nicht um andre Menschen mit andern seelischen
Voraussetzungen? Reden wir nicht zuviel von allen möglichen nur
artistischen Errungenschaften, weil wir selber an ihnen ein artistisches
Wohlgefallen haben? WLHrend wir gleichzeitig vernachlässigen, was
dem nicht artistisch Interessierten viel höheren Lebenswert geben
könnte?

Der gebildete Nichtfachmann, und gar der Mann aus dem Volke,
braucht, wenn er in lebendigem Verhältnis zur Kunst bleiben soll,
Begleiterwerke; Bücher, Noten, Bilder, die vielleicht nicht den
Nationalschatz an seelischen Errungenschaften bereichern, wohl aber
seinen persönlichen seelischen Privatbesitz. Da das Leben des Ein-
zelwesens das seines Geschlechtes abgekürzt wiederholt, werden das sehr
oft ältere Werke sein. Was (nicht die oberflächlichen Narren, aber:)
die Besten eines Geschlechts einmal wirklich begeistert genossen haben,
das „hat gelebt für alle Zeiten" — wir sollten den Sinn des tausend-
fach zitierten Spruchs auch in der Kunstpolitik nicht vergessen. Mög-
lich, daß uns Fachleuten bei solchen Begleiterwerken die Mängel viel
stärker empfindlich sind, als die Vorzüge, wie, beispielsweis, heut die
Allerneuesten nicht nur bei Ludwig Richter, sondern auch bei Menzel
und Böcklin unzufrieden sind, weil sie gerade das, was sie suchen,
nicht finden. Möglich sogar, daß wirkliche Schattenseiten uns die
Lichtseiten bis zum Nichtsehen der Ganzheit des Werkes verdunkeln.
Von andrer Stelle, von andrer Lntwicklungsstufe aus sieht man
das Leuchtende doch und fühlt man's; für andre Menschen leben
jene Werke noch, auch wenn sie von kleineren als den Genannten
stammen. Nnd entsprechend dem „hochmodernen" Gesetz von der Onto-
genese, welche die Phylogenese wiederholt, kann sich auf gesunde, auf
natürliche Weise nur weiterentwickeln, wer „das" durchgemacht, wer
„das" in sich verarbeitet hat.

Will einer von heute sein, eh er von gestern war, wird er Snob.
Die unheimliche Ausbreitung des Snobtums in unsrer Zeit spricht

3H6 Kunstwart XXIII, 2^
 
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