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Lange, Konrad
Das Wesen der Kunst: Grundzüge einer realistischen Kunstlehre (Band 2) — Berlin: Grote, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.47236#0210
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200

Natur nicht entsprechenden ersten Kritzeleien der Kinder. Erst
daraus wird sich einerseits die genauere naturalistische, anderer-
seits die abkürzende stilisierende Darstellung entwickelt haben.
Fassen wir die Resultate dieses Kapitels zusammen, so haben wir
gesehen, dass der Mensch in der Entwickelung der Kunst einen ganz
bedeutenden Schritt über das Tier hinausgethan hat, indem er
gewisse Künste wie Plastik, Malerei und Poesie ganz neu aus-
bildete, andere, zu denen auf der tierischen Stufe nur Ansätze vor-
handen waren, wie dekorative Kunst, Musik und Tanz, zu grösserer
Vollendung brachte. Ganz besonders ist uns aber klar geworden,
dass sich die bewusste Selbsttäuschung, wenn sie auch schon auf der
tierischen Stufe bei den dramatischen Spielen vorauszusetzen ist,
doch erst auf der menschlichen Stufe in ihrer vollen Reinheit ent-
wickelt hat, indem sich erst hier jene Loslösung von den prak-
tischen Interessen völlig vollzog, in der wir ein wesentliches Kenn-
zeichen der entwickelten Kunst erblicken.

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DIE NATURNACHAHMUNG
NACHDEM wir bisher das Wesen der Kunst im allgemeinen
ermittelt haben, müssen wir jetzt noch diejenigen Künste
besonders untersuchen, die man gewöhnlich als naturnachahmende
oder naturdarstellende bezeichnet. Bekanntlich sahen die Griechen
das Kennzeichen aller Kunst in der μίμηοις, der Nachahmung der
Natur. Das liess sich natürlich nur durchführen, wenn man die
Musik und den Tanz als Nachahmungen des menschlichen Gefühls-
lebens, der menschlichen Leidenschaften auffasste. Da dies aber
nur im übertragenen Sinne möglich ist, ausserdem der Begriff der
Nachahmung auf die Baukunst und gewisse Gattungen des Orna-
ments überhaupt nicht recht passt, haben wir den Begriff der
Nachahmung durch den der Illusion ersetzt.
 
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