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Das Mittel zur Erzeugung dieser Illusion ist nun aber in den
Künsten der Anschauungsillusion die Nachahmung. Malerei und
Plastik, Schauspielkunst, dramatische und epische Poesie bedienen
sich, um Illusion zu erzeugen, der Nachahmung von Formen,
Farben, Bewegungen, Worten, Handlungen u. s. w. der Natur und
des Lebens. Sie stellen die Natur und das Leben in Formen dar,
die denen der Wirklickeit entsprechen. Und wir haben gesehen,
dass die naive Ästhetik aller Kunstperioden, auch der sogenannten
idealistischen, die Aufgabe der Kunst in einer möglichst genauen
und lebendigen Nachahmung der Natur erkannt hat.
Dem gegenüber muss es seltsam erscheinen, dass unsere
moderne Kunstkritik, unter dem Einfluss ganz bestimmter Verhält-
nisse, zu dem genau entgegengesetzten Resultat kommen konnte, näm-
lich der Behauptung, dass die Nachahmung der Natur eine niedere
Stufe der Kunst sei, dass der Naturalismus „überwunden“ werden
müsse, ja sogar schon längst überwunden sei, dass die Kunst, die
„wahre, grosse“ Kunst erst jenseits der Naturnachahmung anfange.
Ich glaube, man kann für diesen Wechsel der Anschauungen ver-
schiedene Erklärungen anführen. Erstens die Mode, die nach längerer
Herrschaft des übertriebenen Naturalismus eine Reaktion im idea-
listischen Sinne notwendig machte. Dabei schloss man sich blindlings
den Theorien einiger dekadenter Nachfolger der präraffaelitischen Be-
wegung Englands an, die eine saft- und kraftlose Nachahmung grie-
chischer und gotischer Kunstformen unter dem Deckmantel anti-
naturalistischer, d. h. dekorativer Prinzipien vertreten. Zweitens
den überwiegenden Einfluss der Musik in unserem modernen Kultur-
leben. Da nämlich diese Kunst keine Nachahmung der Natur ist,
dürfen es, so meinte man, auch Malerei und Plastik nicht sein, und da
die Musik nur dazu dient, dem Gefühl, der momentanen Stimmung
des Künstlers Ausdruck zu verleihen, so sind auch die anderen Künste,
wie man meint, nichts anderes als Formen des persönlichen Gefühls-
ausdrucks, wobei die „visuellen Naturmotive“ nur nebenbei, ge-
wissermassen zufällig, als Ausdrucksmittel benutzt werden.
Aber ‘dieses Durcheinanderwerfen der Künste ist von jeher
vom Übel gewesen. Wir sind gewiss die letzten, die eine Einheit
des künstlerischen Schaffens leugneten. Wenn wir aber diese Ein-
heit in der Illusion erkannt haben, so ist darum noch nicht aus-
geschlossen, dass wir uns diese bei einer bestimmten Gruppe von
Künsten in der Form der Nachahmung denken können, derart, dass
ihre eigentliche Aufgabe gerade in dieser Nachahmung bestände.
 
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