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moralische Urteil überhaupt ganz beiseite lassen. Noch niemand
ist es eingefallen, den Charakter Shakespeares nach Richard III.,
den Goethes nach Clavigo, den Sudermanns nach Walter Janikow,
oder den Hauptmanns nach Johannes Vockerath zu bestimmen.
Höchstens kann man sagen, dass etwas von allen diesen Charakteren
in den betreffenden Dichtern darinstecken musste, wenn sie sie so
schildern wollten, wie sie sie geschildert haben. Aber das hängt
eben mit der allgemeinmenschlichen Gefühlsfähigkeit aller grossen
Dichter zusammen. Die Menschen, die sie im Bilde schaffen, müssen
alle Fleisch von ihrem Fleisch, Blut von ihrem Blut sein, wenn sie
wirklich leben sollen. Der künstlerische Schöpfungsakt ist kein
Zusammenbrauen des Homunculus in der chemischen Retorte.
Nur eine Charaktereigenschaft dürfen Dichter, besonders drama-
tische nicht haben. Sie dürfen keine Fatalisten oder Deterministen
sein. Die Lehre, dass der Mensch keinen freien Willen habe, dass
ihm sein Schicksal vorgezeichnet sei, ist, so sehr sie vom höheren
philosophischen Standpunkt aus richtig sein mag, lähmend für
das Individuum und hindernd für den Gang der dramatischen
Handlung. Man kann das Handeln der Menschen nur dann glaub-
würdig und anschaulich schildern, wenn man sie für ihre Worte
und Thaten verantwortlich sein lässt. Und wenn der Dichter auch
persönlich die Überzeugung hat, dass der Mensch ein Spielball in der
Hand höherer Mächte ist, so muss er sich doch während er dichtet
in die Illusion der menschlichen Willensfreiheit und Verantwort-
lichkeit versetzen. Was wäre die dramatische Poesie, wenn man
das Gewissen aus ihr streichen wollte!
ZWANZIGSTES KAPITEL
DIE ANFÄNGE DER KUNST
SO unanfechtbar auch die Loslösung des ästhetischen Genusses
vom Inhalt in logischer und psychologischer Hinsicht ist, so
wenig ist es doch nach dem Früheren möglich, das Künstlerische
und das Allgemeinmenschliche in der Praxis scharf voneinander
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