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NEUNZEHNTES KAPITEL
KUNST RELIGION UND
SITTLICHKEIT

DEN grössten Anstoss hat die Illusionsästhetik bei denen erregt,
die der Ansicht sind, dass die ästhetischen Gefühle im
Grunde mit den ethischen und religiösen identisch seien. Natür-
lich, denn eine Ästhetik, die jene nur als Gefühlsvorstellungen auf-
fasst, also den ästhetischen Genuss von ihrer Qualität loslöst, sein
Zustandekommen von ihrer grösseren oder geringeren Vortrefflich-
keit unabhängig macht, konnte leicht dem Verdacht anheimfallen,
dass sie irreligiös, unmoralisch oder wenigstens gegen alles
Ethische indifferent wäre. Es ist deshalb notwendig, ihren Stand-
punkt zur Ethik genau zu präzisieren. Über das Verhältnis der
Kunst zur Moral ist in den letzten Jahren aus Anlass der Lex
Heinze so viel Schiefes und Unhaltbares gesagt worden, dass
es Zeit ist, die verfahrene Diskussion in die richtigen Wege zu
lenken.
Die Auffassung, dass Kunst und Religion im Grunde dasselbe
erstrebten, dass wahre Kunst ohne religiöse Gesinnung unmöglich
sei, ja dass die Kunst dem gleichen psychischen Bedürfnis ent-
springe wie die Religion, geht auf die katholische Romantik zurück.
Sie erweist sich schon dadurch als hinfällig, dass es eine Menge
Kunstgattungen giebt, die gegen das Religiöse vollkommen in-
different sind, z. B. das Genre, das Porträt, die Landschafts-
und Tiermalerei, das Ornament, der Tanz, teilweise auch die
Architektur und die Musik. Man kann also besten Falls sagen:
In der religiösen Kunst fallen die künstlerischen Gefühle mit
den religiösen zusammen. Aber auch das ist nicht richtig, denn
sonst würde man mit demselben Rechte sagen können, dass die
Schlachtenmalerei ihrem Wesen nach mit der Kriegslust oder
dem Patriotismus, die Frucht- oder Stilllebenmalerei mit der
Feinschmeckerei oder Gefrässigkeit zusammenfalle. Ich habe
die Verkehrtheit dieses Standpunkts wiederholt gekennzeichnet.
Es ist aber ganz begreiflich, dass der Irrtum immer wieder
von neuem auftaucht, wo es sich um wertvolle Gefühle handelt.

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