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Gerade die Inhaltsästhetik konnte dem Anspruch der Frommen,
so sehr sie es wollte, niemals mit Erfolg entgegentreten, weil
sie den ästhetischen Genuss und das Gefühl für den Inhalt iden-
tifizierte , wodurch dem Irrtum Thür und Thor geöffnet wurde,
dass jener da, wo die Kunst einen religiösen Inhalt hat, mit dem
religiösen Gefühl identisch sei.
Die Illusionsästhetik hat es in dieser Beziehung wesentlich
leichter. Nach ihr sind religiöse und ästhetische Gefühle ihrem
Charakter nach ganz verschieden, ja sogar in gewisser Weise
Gegensätze. Denn jene beruhen auf einem Glauben, d. h. einem
wirklichen Fürwahrhalten, diese auf einem Sichvorstellen, einem
Glauben und doch wieder Nichtglauben. Jene bestimmen das
Wollen und Handeln des Menschen, diese seine uninteressierte
rein kontemplative Anschauung. Das religiöse und moralische
Gefühl setzt eine bestimmte einheitliche Richtung des Charakters
voraus, das ästhetische besteht in einem Hineindenken und Hinein-
fühlen in die verschiedensten Charaktere, Stimmungen u. s. w.
Selbstverständlich hat die Kunst von jeher auch religiöse Ge-
fühle dargestellt, aber nicht weil diese ihr besonders kongenial
wären, sondern weil sie zu den allgemeinmenschlichen Gefühlen
gehören, die überhaupt einen Gegenstand ihrer Darstellung bilden.
Die religiösen Gefühle stehen zu der Kunst in keinem näheren
Verhältnis als alle anderen, die von ihr geschildert werden können
und geschildert werden. In Zeiten, in denen sie das Leben des
Menschen beherrschen — oder vielleicht besser gesagt vorher be-
herrscht haben und eben abzusterben drohen — herrschen sie auch
in der Kunst, in Zeiten, in denen sie von anderen profanen Ge-
fühlen verdrängt werden, machen sie auch in der Kunst diesen
Platz. Im Mittelalter, in der Renaissance, dann besonders wieder
in den Zeiten der Gegenreformation hat die religiöse Kunst ihre
Blüte erlebt, in dem Holland des 17. Jahrhunderts, dem Frank-
reich des 18. Jahrhunderts, dann wieder in der Gegenwart tritt sie
verhältnismässig zurück. Diesen Wechsel zu verfolgen, ist gewiss
für den Kunsthistoriker sehr interessant, für den Ästhetiker ziem-
lich gleichgültig. Höchstens hat es für diesen insofern Interesse,
als es die romantische Anschauung von der Abhängigkeit der Kunst
von der Religion, die noch jetzt in vielen Köpfen spukt, widerlegt.
Schon die Behauptung, die Kunst sei von Anfang an religiös
gewesen, ist ganz hinfällig. Wenn man unter primitiver Kunst
nicht die der asiatischen Kulturvölker, sondern die der Naturvölker,
 
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