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VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DIE UMGEKEHRTE ILLUSION

EHE ich dazu übergehe, das schwierigste Problem der Ästhetik
zu lösen, d. h. den Schönheitsbegriff, den ich bisher nur in
Bezug auf die Kunst behandelt habe, nun auch in Bezug auf die
Natur zu analysieren, muss ich eine psychische Erscheinung be-
handeln, die von früheren Ästhetikern zwar hie und da berührt,
aber bisher noch nicht eingehend untersucht worden ist. Ich be-
zeichne sie mit dem Namen der „umgekehrten Illusion“.
Die gewöhnliche künstlerische Illusion kommt wie wir gesehen
haben in der Form zu stände, dass durch die Wahrnehmung eines
Kunstwerks die Vorstellung der Natur, des Lebens, des wirk-
lichen Gefühls u. s. w. entsteht. Das Wesentlichste dabei ist das
Nebeneinanderbestehen zweier Vorstellungsreihen, von denen die
zweite, die sich auf den Inhalt des Kunstwerks bezieht, durch
einen schöpferischen Phantasieakt aus der ersten entwickelt wird.
Die Voraussetzung ist dabei die, dass der Anschauende schon vor
der Anschauung eine Vorstellung des von dem Kunstwerk dar-
gestellten Inhalts oder wenigstens der Elemente, aus denen es sich
zusammensetzt, hatte. Man kann das Gemälde eines Baumes nicht
geniessen, wenn man nicht die Vorstellung wirklicher Bäume,
ein Genre-, ein Historienbild, die Darstellung eines Fabeltieres
nicht, wenn man nicht wenigstens die Elemente, aus denen sich
diese Bilder zusammensetzen, im Bewusstsein hat.
Dieser Akt der Illusion kann nun auch in umgekehrter Reihen-
folge vor sich gehen. Man kann nämlich auch bei der Anschauung
der Natur zwei Vorstellungsreihen entwickeln, eine, die sich auf
die wahrgenommene Natur als solche, und eine, die sich auf die
Möglichkeit ihrer künstlerischen Darstellung bezieht. Man kann
mit anderen Worten die Natur als Bild, als Kunstwerk an-
schauen.
Die Voraussetzung dafür ist die, dass man eine gewisse künst-
lerische Apperceptionsmasse besitzt, dass man viele Kunstwerke
gesehen hat und ungefähr weiss, wie die Natur künstlerisch dar-
gestellt werden kann. Dann entwickelt sich aus der Anschauung
der Natur unwillkürlich ein Bild, ein Kunstwerk, das diese selbe
 
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