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läge und von einem neuen Ausgangspunkt aus beginnen könne.
Aber dann liegt die Sache eben umgekehrt, indem der Realismus
das Ziel der Entwickelung ist, während der konventionelle Aus-
gangspunkt, der die rückläufige Bewegung bestimmt, überwunden
werden muss. Zu jedem Sprung braucht man einen Anlauf,
ein Rückwärtslaufen. Aber wer den Sprung beschreibt, wird
nicht dieses, sondern das elastische Emporschnellen selbst als
die Hauptsache darstellen. Eine gesunde Ästhetik kann sich nicht
auf den Grundsätzen der archaisierenden, sondern nur auf denen
der realistischen Richtungen aufbauen. Jede Nachahmung älterer
Stilarten, mögen es nun klassische, mittelalterliche oder chinesisch-
japanische sein, ist ein Rückschritt in der natürlichen Vorwärts-
entwickelung. Alle diese Stile haben als historische Erscheinungen,
für sich selbst betrachtet, ihre Berechtigung. Als Vorbilder für die
Gegenwart kann ihnen keine Bedeutung zugesprochen werden.
Allerdings handelt es sich ja gegenwärtig meistens nicht um
eine direkte Nachahmung dieser Stilarten. Aber wenn die moderne
Kunst auch nur im allgemeinen die Art von Naturvereinfachung,
die diese altertümlichen Künste ausgebildet haben, als vorbildlich
anerkennen wollte, würde sie auf jede selbständige Entwickelung
verzichten. Das einzige was sie anerkennen kann und anerkennen
muss, ist die Notwendigkeit des Stils überhaupt, d. h. einer Ab-
weichung der Kunst von der Natur nach ganz bestimmten im
Wesen der Kunst liegenden Gesetzen. Einen bestimmten Stil der
Vergangenheit oder ein bestimmtes stilistisches Prinzip einer primi-
tiven Kunststufe für normativ zu erklären, dazu kann sie sich nicht
entschliessen. Sie hat damit zu schlimme Erfahrungen gemacht.
Der Stil der Kinder ist für die Kinder der richtige, Erwachsene
brauchen eine Kunst für Erwachsene. Der Stil des 13. Jahrhunderts
konnte die Menschen des 13. Jahrhunderts befriedigen, die des
20. Jahrhunderts verlangen eine andere Darstellungsweise. ETnd
so wie das Kunstgefühl des einzelnen Menschen sich von dem
andeutenden typisierenden Stil der Kindheit zu einer immer rea-
listischeren Wiedergabe der Natur entwickelt, so muss auch die
Entwickelung der ganzen Kunst in dieser Richtung stattfinden und
dies als das eigentlich Normale, für die Ästhetik Massgebende an-
gesehen werden.
 
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